Das weisse Meer
Leute essen zu zweit an den Tischchen, ich überlege, auch etwas zu bestellen, eine Tomatencrèmesuppe oder einen Salat, da mein Kaffee bereits leer ist. Ich lausche dem Gespräch des Paares vor mir, sie isst einen Salat mit Räucherlachs, er ein Schnitzel mit Reis, beide sind gut gekleidet und wahrscheinlich geschäftlich unterwegs. Sie sind kaum älter als ich, aber ich könnte mir nie vorstellen, mit jemandem so im Speisewagen zu sitzen, komischerweise denke ich an Lars, nicht an Robert. Nur mit Sarah saß ich immer im Speisewagen, die wenigen Male, wenn wir zusammen von der einen Stadt in die andere fuhren, mit Sarah konnte ich Stunden im Speisewagen verbringen, auch ohne etwas zu essen. Obwohl noch weitere Tische frei sind, werde ich nervös und setze mich in den hinteren Teil des Speisewagens, in das sogenannte Bistro. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, werde ich Sarah sagen, ich weiß es nicht.
Ich weiß natürlich sehr genau, wann es angefangen hat. Es war ein heller Sommertag, Sarah und ich gingen spazieren im Park und sprachen über den Winter. Ich erzählte die Geschichte von der Frau, die einmal Schneebälle an die Fenster der Bar, in der ich arbeitete, geworfen hatte. Es war der neunzehnte Dezember, ein Winterabend, in die Bar hatten sich nur einige Stammgäste verirrt, es lief Famous Blue Raincoat von Leonard Cohen. Der alte Sevcik trank Leitungswasser, da ich ihm kein Bier mehr gab, und redete mit sich selbst. Die Gebirge sind gegen die Menschen, deklamierte er, die Methoden des Grauens, die Grausamkeit des in die Gehirne der Menschen vorrückenden Gesteins. Der Platz vor den großen Fenstern der Bar war zugeschneit, weiß wie ein Schlittschuhfeld; hellleuchtender Schnee lag schwer auf den Ästen der Tannen. Die Frau stand mitten auf dem Platz im Licht der Laternen, in einem dunkelgrünen Wintermantel, die langen roten Haare schauten unter der Mütze hervor. An der Hand hielt sie die beiden Kinder. Drinnen lehnte der Vater der Kinder am Tresen, der diese, wie jeden Mittwoch, in die Bar gebracht hatte, wo die Frau sie abholte. Meist verlief die Kinderübergabe schweigend. Der Vater hob die Kinder auf die hohen Barhocker, bestellte ein Bier und zwei Limonaden. Die Kinder streckten ihre Hälse und tranken die farbige Flüssigkeit durch die langen Trinkhalme. Er trank ein Bier und das nächste. Die Frau kam immer etwas später, nahm den Barhocker auf der anderen Seite der Kinder und bestellte ein Mineralwasser, das sie nicht austrank. Die Kinder begannen zu schreien, weil das Kind, das seine Limonade schon ausgetrunken hatte, die Limonade des anderen umgestoßen hatte. Ich füllte zwei neue Gläser, doch die Frau sagte: Wir wollten sowieso gehen. Der Mann sah die Frau an, die Frau sagte nichts, und ich sagte, es ist schon okay. Der Mann bestellte ein weiteres Bier. Lasset die Kinderlein zu mir kommen, predigte der alte Sevcik vor sich hin. Die Frau fasste die Kinder um den Bauch, hob sie von den Barhockern und stellte sie auf den Boden, das größere Kind heulte, weil es den Trinkhalm behalten wollte. Das kleinere Kind wollte nichts. Die Frau bezahlte ihr Mineralwasser und verließ mit den Kindern die Bar.
Denn ihrer ist das Himmelreich, sagte Sevcik noch und verstummte. Die Frau stand nun draußen auf dem verschneiten Platz, mit leuchtend roten Haaren, schneeumweht, an der Hand die Kinder in Wintermäntelchen wie zwei Zwerge. Plötzlich ließ sie die Kinderhände fallen und begann, Schneebälle an die großen Fenster der Bar zu werfen. Der Aufprall klang dumpf. Dann war es still. An den Scheiben klebten weiße Schneeflecken.
Ich sitze vor meiner leeren Kaffeetasse. Außer mir gibt es nur Männer im sogenannten Bistro; eng aneinandergedrängt auf den rosa Bänken trinken sie Bier oder Kaffee. Sie betrachten mich nur, wenn ich den Blick in mein Buch gesenkt habe. Ich überlege, auch ein Bier zu bestellen, aber ohne zu rauchen, verspüre ich keine Lust auf Bier, außerdem ist erst Mittag. An den Wänden hängen gerahmte Plakate mit den Angeboten: Kaffee und ein Stück Pflaumenstreuselkuchen oder Fleischkäse im Brötchen und ein Getränk nach Wahl. Bahnmasten zerhacken rhythmisch den Blick auf das weiße Land. Die kahlen Äste der Bäume verlieren sich am äußersten Rand des Sichtfeldes in ein wirres Gekritzel. Erst als der Zug die Richtung wechselt, werde ich nervös, obwohl die Sitze im Bistro seitwärts angeordnet sind und man weder vorwärts noch rückwärts fährt. Nur die Seite ändert
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