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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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sondern schaut konzentriert gleichzeitig auf den Betrachter und etwas nach links an ihm vorbei. Es ist nicht so, wie du denkst, sage ich. Was weiß ich schon, was Sarah denken könnte.
    Ich traf ihn wieder nach der Trennung von Robert. Als ich dachte, es geht nicht mehr, weil ich überall fürchtete, ich könnte Robert sehen. Wenn ich ihn sah, war es nicht gut, wenn ich ihn nicht sah, war es schlimmer. Also entschied ich: Fliehen, die Stadt verlassen. S’enfuir, sans se retourner. S’enfuir, quitter la ville dans un pas unique.
    Sarah war nicht in der Stadt, sie verbrachte ein Auslandssemester in den USA. Sie und Lars hatten sich getrennt. Wir sind immer noch befreundet, meinte Sarah am Telefon, ihre Stimme klang nah, obwohl ein Ozean dazwischen lag, eigentlich hat sich nichts verändert, sagte Sarah, es ist komisch, wie wenig sich verändert. Sarah hatte sogar vorgeschlagen, ich könne bei ihm wohnen. Sarah dachte sich nichts dabei. Ich entschied mich, ein Hotelzimmer zu nehmen.
    Das eher schäbige Hotel lag im Osten der Stadt. Das Fenster zum Hinterhof war vergittert, ich glaubte mich im Gefängnis, im Kloster oder in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrischen Anstalt. Nachts lauschte ich auf das Knarren über mir, ein Geräusch, als würde jemand die Möbel verschieben. Tagsüber lief ich von den grauen Häusern und Würstchenbuden zum jüdischen Friedhof, mit jahrhundertalten Bäumen und efeuüberwachsenen Grabsteinen. Ich lief durch die Stadt, von einem Stadtteil zum nächsten, durch Plattenbausiedlungen und prunkvolle Alleen, durch Einkaufsstraßen und den Park mit dem riesigen Sowjetdenkmal für die gefallenen Soldaten im Kampf gegen den Faschismus. Es wurde nicht besser. Dennoch war ich froh, dass es tausend Fenster gab in der nächtlich dunklen Stadt und doch keines, an dem ich vorbeigehen musste, jeden Abend, um zu sehen, ob es hell war.
    Nach einigen Tagen glaubte ich, wahnsinnig zu werden, allein schon weil ich tagelang mit niemandem gesprochen hatte, außer mit einer Kioskfrau, bei der ich Zigaretten kaufte. Deshalb rief ich ihn an. Er war krank. Ich war auch krank, jedenfalls fühlte ich mich so, ich lag auf dem Sofa und lernte die Buchtitel auswendig, wie ich dies als Kind getan hatte, wenn ich krank war, Siebenkäs, Die Fackel im Ohr, Örtlich betäubt, Die Schwierigen oder Die Schlafwandler hießen die Bücher früher, aus ihnen setzten sich die Fieberträume zusammen. Die Eltern hatten sie aussortiert, weil sie sie längst gelesen hatten oder nicht mehr lesen wollten. Heute waren es andere Bücher. Ich dachte mir Tag um Tag Gespräche aus, um dann abends die ausgedachten Sätze nicht auszusprechen. Manchmal sagte er Hallo , im anderen Raum, und ich antwortete: Hallo. Was machst du denn?, fragte er. Und ich: Ich versuche, zu lesen oder zu schlafen. Bis ich merkte, dass seine Fragen nicht auf meine Antworten passten, weil er weiterfragte, bevor ich zu Ende geantwortet hatte, oder Antwort gab auf nicht gestellte Fragen. Und schließlich begriff ich, dass er gar nicht mich meinte, sondern mit Sarah telefonierte oder mit jemand anderem. Sonst die Sportschau, ein Krimi, Wahlen in Schleswig-Holstein. Wir sprachen nicht über Schall und Wahn, über erstickte Worte, Verstörung und das Salz der Erde.
    Dann fuhr ich nach Hause, saß im Speisewagen und rauchte, damals durfte man noch rauchen im Speisewagen, nach der Grenze, in den unheimlich farbigen Abteilen erhob sich das graue Land vor meinen Augen, der Himmel war nicht mehr zu sehen.
    Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, sage ich. Sarahs Gesicht lässt weder Trauer noch Wut erkennen. Ihre rotblonden Haare sind gewachsen und aus der Stirn gekämmt, was ihr noch mehr das Antlitz des Mädchens auf dem Bild von Petrus Christus verleiht. Ich hatte das Bild in der Gemäldegalerie in Dahlem gesehen und dann sah ich es wieder, in einem Fenster der Wiener Straße, im ersten Stock. Durch die Fensterscheibe erschien der Blick des Mädchens gebrochen. Ich schließe die Augen leicht, um Sarahs Gesicht, die ebenmäßig alterslosen Züge des Mädchenbildnisses, verschwimmen zu lassen zu einem hellen Fleck.
    Das ist das, dachte ich. Nicht enttäuscht, eher feststellend und vielleicht etwas erstaunt. Es ist immer anders, als man es sich denkt. Lars lag mit dem Rücken zu mir gekehrt, ich blickte über die feinen Härchen seines Nackens durch das Fenster auf den Schatten, den der Baum auf die Brandmauer des gegenüberliegenden Hauses warf. Ich konnte nicht

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