Das weisse Meer
Kopfschmerzen und Ohnmacht verursacht … später war uns das oft beim Umblättern einer Bücherseite geschehen …
Ich schlief natürlich nicht ein, wie sollte ich einschlafen, und während er las, bemerkte ich zum ersten Mal, dass sich etwas verschoben hatte. Dann stand er auf, machte das Radio an. Und alles war wieder normal, außer dass ich in der U-Bahn ohne Fahrausweis erwischt wurde und deshalb zu spät im Park ankam, wo Sarah auf mich wartete.
Ich sitze als einzige Passagierin immer noch im Speisewagen. Durch den violettgrauen Himmel über den Fabriken bricht die Sonne, und der Horizont wird weit. Die Serviceangestellte wischt noch einmal über die Tische und schließt den Rollladen der Bar.
Ich sitze im Speisewagen, als wäre alles wie immer. Als würde ich einmal mehr in die andere Stadt fliehen. Dabei ist diesmal alles anders.
Angekommen, kaufe ich an einem Dönerstand zwei Bier, wie früher, und denke erst zu spät daran, dass nichts mehr ist wie früher. So packe ich ein Bier in den Rucksack und trinke das andere in schnellen Schlucken, bevor mir Sarah mit dem Fahrrad über die Brücke entgegenkommt. Sarah umarmt mich, ohne vom Rad zu steigen, wobei ich mich etwas niederbeuge, sie ist klein und sieht blass und durchsichtig aus, wie früher.
Wir finden ein Café mit rostrot gemalten Wänden, an denen mit vergilbtem Stoff bezogene Lämpchen hängen. Draußen der kalte Abend, die Straßen waren leer, nur vor dem gegenüberliegenden türkischen Supermarkt bilden sich Trauben von einkaufenden Menschen. Sarah sitzt mir gegenüber, sie trägt einen grauen Wollpullover und eine olivgrüne Hose. Ihr Gesicht im Licht der Kerze wirkt ruhig, fast feierlich. Sarahs Gesicht, das zugleich mädchenhaft und alterslos aussehen kann, erinnert mich immer an ein mittelalterliches Gemälde; das Bildnis eines Mädchens von Petrus Christus, ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und leichtem Silberblick. Das Mädchen trägt eine hohe schwarze Haube, welche die Haare verdeckt, einen blauen Umhang und ein goldenes Collier um den schmalen langen Hals. Ich bestelle ein Glas Rotwein. Es wäre eigentlich alles wie immer, obwohl Sarah Rooibostee bestellt. Wie es immer war, seit dem Abend, als wir uns wiedertrafen in der Stadt.
Ich hatte sie angerufen, Sarahs Stimme klang ungewohnt am Telefon, sie schien den Dialekt schon nach kurzer Zeit vergessen zu haben. Es regnete, die Menschen trugen Schirme oder liefen unter der Hochbahn. Sarah stand auf der anderen Straßenseite und winkte. Sie trug eine schwarze Regenjacke, deren Kapuze sie tief in die Stirn gezogen hatte, deshalb hatte ich sie erst nicht erkannt. Ich war wieder überrascht, wie klein sie war. Gut, dass du da bist, sagte sie, wir müssen gleich irgendwo reingehen. In der Bar schälte Sarah sich aus ihren Jacken und Pullovern und strich sich die Haare aus der Stirn. Wir warfen Münzen in die Jukebox neben der Tür und hörten die Smiths. Take me out tonight, because I want to see people, I want to see life. Sarah sagte: Die Stadt ist das Schlimmste. Nirgendwo bist du einsamer. Dies hat sich auch in den eineinhalb Jahren, seit ich hier wohne, kaum geändert. Und irgendwann merkst du, dass gerade die Einsamkeit notwendig ist.
Wollen wir Freundinnen sein?, fragte Sarah später. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mir jemand, seit ich nicht mehr fünf Jahre alt war, eine ähnliche Frage gestellt hatte. And if a double-decker bus crashes into us, to die by your side, well, the pleasure – the privilege is mine.
Sarah hatte ich im Lateinkurs kennengelernt. Sie war mir schon anfangs aufgefallen, sie hatte sich den Platz ganz hinten links ausgesucht, ich saß hinten rechts. Ich merkte, dass Sarah, wie ich, die vorderen Studierenden abzählte, um zu wissen, bei welchem Satz sie mit Übersetzen an der Reihe war. Einmal fing sie mich in der Pause ab, auf dem Weg zu den Kaffeeautomaten im anderen Universitätsgebäude. Weshalb hat er sich umgedreht?, fragte sie. Ich begriff erst nicht, dann fiel mir ein, dass ich in der vorangegangenen Stunde die Geschichte von Orpheus und Eurydike erzählt hatte, um von meinen fehlenden Lateinkenntnissen abzulenken. Ach, sagte ich, weil er ungeduldig war, aus Angst oder aus Liebe, das ist schwer zu sagen. Sarah blickte mir in die Augen. Sie war kleiner als ich und schaute zu mir hoch, was ihrem Blick etwas Eindringliches verlieh. Bist du sicher?, fragte sie. Ich warf eine Münze in den Kaffeeautomaten und drückte den Cappuccino-Knopf. Sarah trank
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