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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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denen auf der anderen Seite spielen würden, eine Brücke zu bauen, sozusagen. Der Krieg war allgegenwärtig und Thema jedes Gesprächs, fragt nicht immer nach dem Krieg, sagten sie jedoch, wenn man nachfragte, alle fragen immer nur nach dem Krieg. Jonas hatte ein Diktiergerät dabei, eigentlich hätte er einen Bericht für eine Zeitung schreiben sollen, doch auf der Kassette befanden sich nach unserer Rückkehr nur das Gezirpe der Grillen am Fluss und der Ruf der Muezzine aus verschiedenen Windrichtungen.
    Das Brückenspringen fand in der Nacht statt. Eine Männersache, ich wurde gar nicht erst gefragt. Jonas traute sich nicht. Das war kein Problem, wir waren ja Touristen, und Jonas selbst hätte nie zugegeben, dass es ein Problem für ihn war.
    Ich bemerkte die Federn erst, als ich sie im Mund hatte. Der Künstler hatte die Decke über uns geworfen und küsste mich, während er mir ungeschickt zwischen die Beine fasste. Die Federn waren plötzlich überall, auf unseren Körpern und im Gesicht. Ach, die Federn habe ich ganz vergessen, sagte der Künstler und erhob sich. Er schüttelte sich die weißen Daunenfedern aus den Haaren. Die Daunendecke war auf der einen Seite aufgeschnitten und beinahe leer. Die restlichen Federn, die der Künstler nicht schon vorher für seine Skulptur verwendet hatte, waren auf dem Bett verteilt und klebten an unseren halbnackten Körpern. Hast du einen Staubsauger, fragte ich, oder hast du eine andere Decke? Der Künstler hatte weder einen Staubsauger noch eine andere Decke, mir ist schlecht, sagte er. Er war blass geworden und rannte zur Toilette. Ich erhob mich und zog mich an.
    Der Zettel lag auf dem Küchentisch, Jonas und ich schrieben uns immer Zettel, da wir uns selten sahen. Frau Blum hat Bumbar tot aufgefunden , darunter eine Adresse. Es tut mir leid , schrieb Jonas, und: Sei umarmt, J. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. Der Kater wurde andauernd von älteren Damen aufgefunden, nach deren süßlichem Nelkenparfüm er roch, wenn er vollgefressen wieder bei mir auftauchte. Die Damen hatten mich oft auch angerufen, da meine Nummer auf dem Halsband stand, dann holte ich den Kater ab. Doch in Jonas’ etwas kindlicher Krakelschrift stand da: tot ; zwei windschiefe Kreuze und in der Mitte ein Kreis. Ich wünschte nun, ich hätte den Künstler nicht mitgenommen. Ich zog den Mantel nicht aus. Wahrscheinlich hatten sie die Katze schon weggeschafft, die Müllabfuhr oder wer dafür zuständig war, dachte ich, trotzdem lief ich zu der genannten Adresse. Der Künstler ging schweigend neben mir her. Die Weststraße war um diese Zeit kaum mehr befahren. Der Kater lag ausgestreckt auf dem Gehsteig, die verletzte Körperstelle nach unten. Mit den Wollhandschuhen, die ich trug, fasste ich den steifen Katzenkörper an und drehte ihn um. Erst jetzt sah ich das eingetrocknete Blut und die erloschenen Augen. Er musste schon eine Zeitlang tot sein, denn sein Körper war wie eingefroren. Schweigend trug ich den Katzenkörper nach Hause. Im Hausflur fragte der Künstler: Ist Jonas dein Freund? Nein, sagte ich, Jonas ist mein Bruder.
    Jonas war mein Bruder. Jedenfalls sagten wir das, weil es mehr war als eine Freundschaft oder auch weniger. Wenn ich Jonas beobachtete, erinnerte er mich an mich selber. Wenn er morgens in dem Café neben dem Studentenwohnheim in Sarajevo wartete, bis ich bestellte, um dann dasselbe zu bestellen, wenn er die wenigen Worte wie kava oder mlijeko , die er in der Sprache gelernt hatte, falsch betonte, dass es wie Russisch klang, wenn er so tat, als würde er die Zeitung lesen, wie ich es tat, obwohl wir beide kaum etwas verstanden. In dem Café in Sarajevo, mit den rosa Tischdecken und den Fotos aus den Schweizer Bergen und der Serviererin, die uns nicht mochte, weil es ihr peinlich war, dass sie kein Englisch sprach, sah ich Jonas im Spiegel, seine magere Gestalt, die leicht gebückte Haltung, seine zu langen dunklen Haare, die ihm ins Gesicht fielen, und ich sah mich im Spiegel.
    Vorsichtig und ohne zu klopfen öffnete ich Jonas’ Zimmertür. Jonas lag im Bett und schlief. Jonas’ Zimmer war kahl, außer einigen vollen, halbleeren und leeren Kartons, obwohl er nun schon fast ein Jahr bei mir wohnte. Eine Matratze, ein Tisch und ein Stuhl, weitere Möbel besaß er nicht. Ich hoffte, Jonas würde nicht aufwachen, oder vielleicht hoffte ich doch, dass er aufwachen würde, und gab mir deshalb keine besondere Mühe, leise zu sein. Ich öffnete mehrere Schachteln

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