Das weisse Meer
Petersburg. Aber es könnte sein, dass ich Ida so verpasse, um ein Haar. Es könnte sein, dass Ida die Katzenbachstraße entlangkommt und an meiner Tür klingelt, als hätte sie vergessen, dass sie einen Schlüssel besitzt, während ich in einem der dunkelroten Sessel unter den langhalsigen Adeligen auf den Ölbildern im Café Sankt Petersburg sitze. Durch die großen Fenster sieht man zwar den Hauseingang, aber es gibt immer einen toten Winkel, einen Moment der Unachtsamkeit.
Heute habe ich nichts gemacht. Ich bin nicht ins Café Sankt Petersburg gegangen und habe Wein getrunken und dem alten Russen zugehört, der neuerdings ins Theater geht und sich russische Stücke auf Deutsch ansieht, weil er die Handlung schon kennt. Ich habe nicht mit ihm über Marx gesprochen. Ich habe noch nicht einmal eingekauft, obwohl mir gestern schon aufgefallen war, dass gar nichts zu essen da wäre, falls Ida vorbeikäme, der Kühlschrank ist leer, bis auf ein Glas Senf und eines mit sauren Gurken. Fast so, als wäre ich weggefahren. Dabei war ich immer hier.
Auf der anderen Straßenseite liegt die Katze des Nachbarn wie ein schwarzer Fleck auf dem Gehsteig. Wenn es schon keinen Bach gibt, dann wenigstens eine Katze, sagte Ida manchmal. Als müssten Straßennamen einen Sinn haben. Dabei hat sich höchstwahrscheinlich niemand etwas dabei gedacht. Die Katze hat sich in der ganzen Zeit nicht bewegt, in den Minuten oder Stunden, in der endlosen Zeit, in der ich zum Fenster hinaus auf die Katzenbachstraße blicke. Die Katze könnte ebensogut tot sein. Vielleicht ist sie auch tot, man weiß es nur nicht. Wie in dem Versuch von Schrödinger, diesem Physiker. Der alte Russe vom Café Sankt Petersburg hat mir davon erzählt, und ich sollte Ida etwas fragen; nur leider habe ich vergessen, was ich Ida fragen sollte, weil ich von dieser heillosen Aufregung ergriffen wurde, wie immer, wenn jemand von Ida spricht. Ida sollte das doch wissen, sagte der alte Russe, und ich sagte: Ja, Ida weiß das bestimmt. Weil ich Ida aber bisher nicht fragen konnte, muss ich mich an die Erläuterungen des alten Russen halten, die nicht weniger gewagt sind als seine Theorien zum Kapital oder zu Krieg und Frieden . Das Gedankenexperiment geht so: Eine Katze wird in eine Kiste gesteckt, in der sich eine geringe Menge radioaktiver Substanz befindet. Dabei beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Atome nach einer Stunde zerfallen ist, fünfzig Prozent. Zerfällt ein Atom, stirbt die Katze. Da das Leben der Katze von dem Zustand der radioaktiven Substanz abhängt, befindet sich diese in einem Zwischenzustand, man weiß nicht, ob sie nun tot oder lebendig ist, denn wenn jemand die Kiste öffnet, stirbt die Katze auch. Es gibt nur die Entscheidung zwischen Tod oder Nichtwissen. Was die Sache nun erklären soll und was die Funktion der Katze ist, wurde mir jedoch nicht klar. Vielleicht war dies die Frage, die ich Ida stellen sollte.
Ich könnte Ida anrufen. Sie würde sich melden, vielleicht, nach dem siebten Klingeln. Meist lasse ich es nur sechs Mal klingeln, außer ich bin mir des Telefonats sehr sicher. Die sechs ist eine abergläubische Zahl. Nach dem achten Klingeln springt der Telefonbeantworter an. Das siebte Klingeln bedeutet, dass Ida nicht am Computer saß, sondern eben noch auf der Leiter stand oder über ein Mikroskop gebeugt war, etwas Unsichtbares betrachtend. Sie würde deshalb vielleicht kurz angebunden sein oder genervt. Aber ihre Stimme würde normal klingen. Ich bin’s, würde ich sagen, ich wollte nur mal anrufen. Dann wäre es still. Was machst du denn, würde ich fragen, in die Stille hinein, vielleicht mit etwas heiserer Stimme, die mir selbst verzerrt vorkäme, wie durch ein Telefon, dabei bin ich ja auf dieser Seite. Willst du das wirklich wissen?, würde Ida fragen, betont geduldig. Nein, das heißt ja, würde ich sagen, und Ida würde nichts sagen und dann, bis dann, mach’s gut. Dann wäre sie wieder weg. Sie wäre wieder bei ihrem Chaos, nur ich würde den Telefonhörer umklammern, als gäbe es noch etwas festzuhalten, vor dem Klicken in der Leitung.
Ida dachte immer, ich interessiere mich nicht dafür, was sie tut. Doch dies ist nur eine falsche Schlussfolgerung daraus, dass sie sich nie dafür interessierte, was ich tue. Ich interessiere mich auch nicht allzusehr für mein Tun. Das Chaos hingegen hat mich nie in Ruhe gelassen. Ich wollte Ida mehrmals danach fragen, aber sie winkte ab. Ida hatte sich längst neuen Experimenten
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