Das weisse Meer
Rock schiebt einen Einkaufswagen, ein streunender Hund im Vordergrund, Telegrafendrähte führen auf den Horizont zu. Darauf die Schrift, ein Gedicht, das mit den Worten endete: Today is the tomorrow you were promised yesterday. Ohne viel zu überlegen, löste ich das Bild vorsichtig vom Glas, kratzte die Klebestreifen von der Rückseite und steckte es in meine Tasche. Dann verließ ich die Fabrik. Zu Hause klebte ich das Bild an das Fenster von Jonas’ Zimmer, das nun leerstand.
Ich vermietete das Zimmer nach Jonas’ Auszug nicht wieder neu. Eine Weile ließ ich es leerstehen, nicht weil ich hoffte, Jonas würde zurückkommen, sondern eher aus einer Art Pietät, als wäre jemand gestorben, und es würde sich nicht gehören, dessen Raum gleich für etwas anderes zu verwenden. Nach einigen Monaten richtete ich mir dort ein Arbeitszimmer ein. Ich fand einen Job am psychologischen Seminar und kämpfte nun mit statistischen Auswertungen und dem Kopierapparat, statt mit Tellern und einem bösen Koch. Jonas traf ich selten.
Es wurde Frühling, und die Blüten der japanischen Zierkirschenbäume färbten den Innenhof der Siedlung rosa. Ich traf den Künstler auf der Straße. Ich habe dich gesucht, sagte er, ich bin die Straßen abgelaufen, aber ich wusste nicht mehr genau, wo du wohnst, Martastraße oder Bertastraße oder Gertrudstraße, einer dieser Frauennamen war es. Ich wich einen Schritt zurück, fragte mich, ob der Künstler betrunken war oder verrückt. Ich meine, du hast mich damals gerettet, du hast mich damals bei dir aufgenommen, trotz der Federn und der toten Katze. Vielleicht können wir uns mal treffen, was sagtest du nochmals, Idastraße? Warte, ich geb dir meine Nummer, sagte der Künstler und kritzelte mir hastig seinen Namen und seine Telefonnummer auf einen Zettel, den ich zerknüllte und in die Jackentasche steckte.
Vor dem Supermarkt stand Sami, der in unglaublichem Tempo ein Schokoladeneis aß. Kann ich zu dir kommen?, fragte er, und ohne mein Einverständnis abzuwarten, lief er schnaufend neben mir her. Wo ist eigentlich der Bomber?, meinte er, als wir vor der Haustüre ankamen. Er sprach den Namen der Katze aus wie den eines Kriegsflugzeuges. Ich begriff erst nicht. Die Kinder wussten doch, dass die Katze gestorben war, sie hatten mich fassungslos angeschaut, als ich es ihnen erzählte, der kleine Sami hatte geweint. Der Bumbar ist gestorben, sagte ich langsam, das weißt du doch, er ist überfahren worden, in der Weststraße. Der Junge schaute mich entgeistert an und begann dann zu murmeln: uiuiui , uiuiui . Er wiederholte mehrmals dieses Uiuiui , beginnend mit einem hohen Ton und ließ dann seine Stimme sinken. Wusstest du das denn nicht, fragte ich vorsichtig, ich dachte, ich hätte euch das erzählt. Ich hab’s vergessen gehabt, sagte Sami. Dann schob er den Rest seines Eises in den Mund und rannte zu den anderen Kindern, die im Hof Fußball spielten.
Armageddon
Ich hoffte, Ida käme vielleicht etwas früher. Es ist sechs Uhr abends. Etwas früher heißt nicht sechs Uhr, nicht bei Ida, trotzdem bin ich nervös, wie ich bei Ida immer ein wenig nervös bin, als wäre alles noch neu und unbestimmt, ein neuer Mond am noch hellen Himmel, als könnte ich noch alles befürchten. Ich habe das Chaos weggeräumt, die Bücher und die zerknüllten Taschentücher, ich habe andere Bücher und Zettel auf dem Tisch verteilt, den Computer eingeschaltet und mir den Schlaf aus dem Gesicht gewaschen. Die Zettel sind Monate und Jahre alt, und ich könnte nicht sagen, was darauf steht und wer es geschrieben hat, wahrscheinlich war ich es, ich erkenne die Schrift. Ich würde mich nicht erinnern, was in den Büchern steht, aber Ida wird nicht fragen. Ida wird die Papiere sehen und die Bücher, und sie wird sich nichts denken.
Ich schaue aus dem Fenster auf die Katzenbachstraße; das Licht der schräg stehenden Sonne verfängt sich in den Blättern der großen Ulmen und wirft Schattenmuster auf den Asphalt. Es hat aufgehört zu regnen, der Frühling kommt, sagen sie.
Ich könnte ins Café Sankt Petersburg gehen, um da auf Ida zu warten. Ich könnte mir die Geschichten des alten Russen anhören, aus Meister und Margarita von Bulgakow, Tschechows Drei Schwestern oder über die Stadt namens Marks oder tatsächlich Marx in der Nähe von Wolgograd, dem früheren Stalingrad, den Heimatort der Besitzer des Café Sankt Petersburg, welches sie natürlich nicht Stalingrad und auch nicht Marx genannt hatten, sondern Sankt
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