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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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mich, dachte, sie müssten wohl fünf Hände haben, um alles zu halten, die Hundeleinen, Tragetaschen, Fahrradlenker und die Geliebtenhände.
    Ich stand vor den Holzgestellen des türkischen Ladens und füllte Tomaten in eine Plastiktüte. Sie kam über die Brücke, die auf die andere Seite des Flusses führt, zu den Einfamilienhäusern mit Garten und zur Technischen Universität. Sie trug die Winterjacke unter dem Arm; der Wind blies ihr das halblange dunkle Haar ins Gesicht. Sie lief direkt auf mich zu, schien mich aber nicht zu sehen, und ich überlegte, mich etwas zu ducken, um hinter all den Leuten oder dem Bademodenplakat, das sich im Halbminutentakt in das Plakat einer Versicherungsgesellschaft verwandelte, zu verschwinden. Sie ging an mir vorbei, die Straße hinunter, dann drehte sie sich nochmals um, schaute über die Schulter zurück zu mir. Sie sah mich an. Doch sie konnte mich nicht sehen. Ich war tatsächlich unsichtbar geworden, wie früher, als ich ein Kind war und mir in angsterfüllten Träumen und Wirklichkeiten die Handflächen vor die Augen gehalten hatte. Ich hielt mir die Hände nicht vor das Gesicht, trotzdem war ich eine flüchtige Luftgestalt, die das Sonnenlicht nicht reflektierte und nur leicht flimmerte, wie fliegende Staubkörner.
    Doch sie war es gar nicht. Die Frau sah ganz anders aus als Ida, sie glich ihr nicht einmal. Ich ließ die Tüte mit den Tomaten fallen und starrte der fremden Frau nach, wie sie die Straße hinunter ging, über der die regentropfenbehangenen Tramleitungen wie gleißende Lichtstreifen in die Ferne führten. Alles war normal, nur die Haut ihres Nackens blendete meine Augen, wie zu grelles Licht.
    Vor dem Café Sankt Petersburg liegt diese dicke schwarze Katze in der Sonne; der Frühling kommt, sagen alle, und mit dem Frühling kommt auch die Angst. Wobei ich nicht sagen könnte, ob ein kausaler Zusammenhang existiert zwischen dem Frühling und der Angst. Ich könnte fernsehen. Gestern habe ich ferngesehen. Oder vorgestern? Die Tage sind endlos und auswechselbar zugleich. Ich sah mir einen Dokumentarfilm über die Wolfsjagd an. Wenn sie den Wolf häuten, schneiden sie sein silbergrauglänzendes, räudiges Fell mit schnellem geübtem Schnitt den Bauch entlang auf und ziehen es ihm dann über den Nacken. Das Wolfsfell ist sträubig wie Stahlwolle und lässt sich schwer vom sehnigen, rotgeäderten Fleisch abziehen. Wenn sie den Wolf häuten, ziehen sie ihm vorsichtig die Wolfshaut vom Fleisch ab. Der Wolf ist viel kleiner und magerer, als man gedacht hätte, ausgezehrt, nur noch ein blasses Abbild seiner Legende. Der Wolf ist kaum größer als ein magerer Hund. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man nicht glauben, dass dies der Wolf ist. Selbst sein Schädel, den sie an die Hauswand nageln, um das Böse zu bannen, selbst sein Schädel ist schmal, und hinter den starren, gläsernen Augen kann kein längst erloschener Lichtblitz ausgemacht werden. Dreiunddreißig Schafe hat der Wolf gerissen. Keine Menschen.
    Ich könnte Ida anrufen, und sie wäre da. Am anderen Ende dieses Schweigens. Weshalb ist die Stille am Telefon stiller als die einer tatsächlichen Begegnung? Es ist, als würde die Entfernung von der Technischen Universität bis zur Katzenbachstraße die Stille ins Unerträgliche verstärken. Doch ist das Ausmaß der Stille nicht proportional zur Entfernung zu messen. Beispielsweise ist die Stille zwischen der Katzenbachstraße und der Technischen Universität nicht annähernd zu vergleichen mit der Stille zwischen New York und der Technischen Universität. Obwohl zwischen New York und der Technischen Universität ein Ozean liegt und sechs Stunden Zeit und zwischen der Katzenbachstraße und derselben Universität nur einige Kilometer, ein Katzensprung sozusagen, ist die Stille zwischen New York und der Technischen Universität immer eine angenehme Stille gewesen. Nur die sechs Stunden Zeitdifferenz hinterließen eine Ahnung der tatsächlichen Entfernung. Vielleicht, so denke ich manchmal, kann die Zeitverschiebung alles erklären. Mehr als der New Yorker Winter, Wind und Regen und der Ozean dazwischen. Dass ich Ida von einer langweiligen Party in einem New Yorker Hotel anrufen konnte, weil bei ihr schon morgen war und sie am Küchentisch saß und schwarzen Kaffee trank; dass ich abends durch die Menschenmassen der Canal Street laufen konnte, glücklich zu wissen, dass Ida schlief, auf der anderen Seite. Immer wenn ich ihrer gewahr wurde, erschien mir die

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