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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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zugewandt, während ich ob dieses Chaos nicht mehr ruhig schlafen konnte. Das Chaos war ein stecknadelgroßer roter Punkt in der Luft. In diesem Punkt war so viel Energie, dass die Luft verbrannte, Moleküle barsten, Plasma entstand, wie in einer Neonröhre oder in der Sonne. Der Punkt stand still in der Luft und summte in einem hohen Ton. Ob sich Ida an das Chaos erinnert? Sie zeigte es mir an einem Februarmontag, als ich sie im Labor der Technischen Universität besuchte, danach stritten wir, nicht über das Chaos, über unwichtige Dinge und fuhren schließlich schweigend zuhinterst im Bus nach Hause.
    Vor dem Ende waren wir ans Meer gefahren. Die Saison war längst vorbei, die meisten Restaurants und Imbissbuden waren geschlossen, die Bungalows verlassen. Das Meer war zu kalt, um schwimmen zu gehen. Am letzten Tag erwachte ich früh und hörte den Wald durch den dünnen, taunassen Zeltstoff und Idas regelmäßigen Atem. Ida ging laufen am Strand, währenddessen packte ich das Zelt zusammen. Das Zelt liegt immer noch auf dem Dachboden, darin eingewickelt Tannennadeln, Laub und Dreck. Ich ging noch einmal um den alten Rummelplatz herum, der mich an Coney Island erinnerte, wir waren nie zusammen in Coney Island, weil es immer geregnet hatte, als Ida mich in New York besuchte. An jenem Morgen regnete es auch. Hinter dem zerschlissenen, mehrfach mit Brettern und Draht geflickten Zaun des Rummelplatzes tat sich ein märchenhaftes Durcheinander auf. Zwischen Brombeerhecken und Schrott parkten riesenhafte Spielzeugautos mit aufgemalten Gesichtern, rosa Wangen und Schnurrbärten. Die dunkelroten Kapseln der Schwebebahn hingen wie Glocken an einem schwarzen Gestänge. Die Tiere, Nashörner, Dinosaurier waren von Gestrüpp überwachsen, ein Elefant war umgekippt und lag seitlich im Gras, ein Stoßzahn daneben. Lernt man nicht schon als Kind, dass Elefanten nicht wieder aufstehen können, nachdem sie umgefallen sind?
    Ida beklagte sich nicht darüber, dass sie die ganze Strecke zurückfahren musste, weil ich mir plötzlich sicher war, dass es mir unmöglich war, zu fahren, dass ich an diesem Tag noch nicht einmal auf ein Fahrrad steigen könnte oder auch nur eine Straße überqueren, geschweige denn ein Auto lenken. Wir tranken einen Kaffee bei McDonald’s an der Autobahn und aßen zwei winzige Himbeertörtchen, die wir in einer Konditorei in dem Kurort an der Ostsee gekauft hatten. Ich erinnere mich an Ida, wie sie dieses Himbeertörtchen isst, auf einem Plastiksessel sitzend, hinter ihr ein farbiger Clown, die Autobahn und graue Plattenbauten. Eigentlich komisch, dass die Leute nicht öfter ihre eigenen Sachen mitbringen, um sie an diesem schönen Ort zu essen, bemerkte sie sarkastisch. Zurück im Auto hörten wir eine Kassette mit Brecht-Gedichten, da wir alle alten Musikkassetten schon mehrfach abgespielt hatten, Geschichten von Herrn Keuner, und von einer Wolke, weiß und ungeheuer oben. Ida kniff die Augen zu vor Müdigkeit, und ich schwieg, um sie nicht von der Straße abzulenken.
    Gestern habe ich Ida gesehen. Ich habe im Café Sankt Petersburg Kaffee getrunken und in den Zeitungen gelesen, was in der Welt außerhalb der Katzenbachstraße geschieht. Es war ein heller Frühlingstag, Samstag, es musste wohl Samstag sein, unheimlich viele Menschen waren auf der Straße, und das Wetter und die flanierenden Leute taten so, als wäre schon Sommer. Die Straße flimmerte in der Sonne, die winzigen Flächen der grauschwarzen Asphaltteilchen und die letzten Regentropfen der Nacht reflektierten das Licht wie geschliffene Kristalle. Die Leute kauften ein, Pärchen meist, sie waren jung, es schienen überhaupt nur junge Menschen auf der Straße zu sein, als wäre die Welt vor fünfunddreißig Jahren erst erschaffen worden. Die Frauen trugen ihre dunklen oder blonden Haare zu wippenden Pferdeschwänzen zusammengebunden, feingliedrige Nacken blickten hervor und unter hellen Trägershirts Schulterblätter, wie Flügel. Die Männer hatten sehnige Körper, die Muskelstränge sichtbar unter der leicht gebräunten Haut, tätowierte Arme, welche die Papiertragetaschen trugen, gefüllt mit frischen Sommersalaten, übertrieben roten Tomaten, gelben, grünen Paprika, Basilikumblättern, Fischfilets vielleicht, Lachs oder Zander, einer Honigmelone, die richtige Süße fachgerecht abgetastet, oder Granatäpfeln, versteckte blutrote Schluchten gefüllt mit leicht sauren Kernen. Manche der Menschen hatten Hunde oder Fahrräder, ich wunderte

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