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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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Kälte.
    Jonas und ich saßen auf dem Balkon des kleinen Steinhäuschens in den Bergen, das Jonas’ Familie gehörte, das Gezirpe der Grillen war nah und weiter weg die Geräusche des Waldes. Wir legten Anagramme, diesmal begnügten wir uns nicht mit den Namen unserer Klassenkameraden. MORGEN IST SCHON WIEDER HEUTE, legte ich auf das gelbe Wachstischtuch und schob den Satz Jonas hin, der die Scrabblesteine wieder neu mischte. OH MORDEN SCHREIEN WUT STEIGE legte Jonas, und ich mischte die Steine erneut. Wir waren wie im Fieber. Jonas notierte die Zeilen auf einem Blatt Papier. Wir blieben noch lange an dem kleinen Tisch sitzen. Wir konnten die Dunkelheit hören. An diesem Abend hätten wir die Geschwistergeschichte vielleicht aufgeben können. Jonas sagte: Es ist so, wie es ist, aber es wird nicht so bleiben.
    Am nächsten Tag gingen wir zu dem kleinen Bergsee, das Wasser war von einem dunklen Türkisgrün und so kalt, dass einem das Blut zu gefrieren schien, ein Bergbach fiel in einem weißschäumenden Strahl dreißig Meter in die Tiefe. Neben dem Wasserfall ragte ein Felsvorsprung hervor, eine Art Plateau, wo Dutzende braungebrannter Jungenkörper zitterten, um dann mit theatralischen Schreien in die Tiefe zu fallen. Du willst doch nicht etwa springen!, hatte ich gesagt, mich kannst du damit nicht beeindrucken, doch Jonas zuckte die Schultern, und Minuten später stand er auf dem Felsen, blasser als die Jungen vom Dorf. Vor Jonas sprangen zwei kleine Jungen, kaum fünfzehn Jahre alt. Jonas blickte nicht zu mir herüber, sondern geradeaus in die Luft und zögerte nur einen Augenblick, bevor er mit einem Kopfsprung in die Tiefe stürzte. Erst am nächsten Tag, als wir im Zug nach Hause fuhren, sagte Jonas: Es ist etwas mit meinen Ohren, so ein Druck, wie im Flugzeug oder so. Du musst zum Arzt gehen in der Stadt, sagte ich, wenn es nicht aufhört, sagte ich. Außerdem höre ich schlecht, sagte Jonas, und was ich nicht höre, die Stille, die ist umso lauter. Es fühlt sich an, als wäre ich immer noch unter Wasser.
    Ich habe ein Zimmer gefunden, sagte Jonas, eine Woche nachdem wir die tote Katze zur Müllverbrennungsanlage gebracht hatten. Wo denn, fragte ich, und Jonas sagte: etwas außerhalb der Stadt, bei Markus. Ich kannte Markus nicht, ich wusste noch nicht einmal, dass Jonas ein Zimmer gesucht hatte. Jonas packte seine wenigen Sachen in die Schachteln, Markus hatte ein Auto, wir hatten die wenigen Sachen, Matratze, Tisch und Stuhl schnell heruntergetragen.
    Am Abend nach Jonas’ Auszug kam ich eher zufällig am Atelier des Künstlers vorbei und entschloss mich, nachzuschauen, ob dieser da sei. Im Treppenhaus hingen Fotografien von Embryos, die in Einmachgläsern in Spiritus konserviert wurden. Die Bilder waren entweder neu, oder sie waren mir in der Nacht nicht aufgefallen. In der großen Halle saßen einige Leute vor ihren Computern, damit hatte ich nicht gerechnet. Doch kaum jemand blickte auf, als ich eintrat. Vor der Tür des Hinterzimmers, in dem der Künstler wohnte, malte jemand großformatige Palmenbilder auf eine Leinwand, ich grüßte, er nickte mir kaum merklich zu, nur die Zigarette in seinem Mundwinkel bewegte sich leicht.
    Die Tür zum Hinterzimmer des Künstlers war angelehnt, doch er war nicht da. Ich schloss die Tür hinter mir. Der Künstler hatte aufgeräumt, die Federnskulpturen waren weg. Auf dem Tisch lagen einige Fetzen Papier oder Leinwand. Ich zündete nun doch das Licht an, eine leicht flackernde Neonröhre. Die Leinwand war in kleine rechteckige Stücke zerschnitten, eine Seite war schwarz angemalt, die Farbe war noch nicht vollständig getrocknet und biegsam wie Gummi, an den Rändern waren darunterliegende weitere Farbschichten erahnbar. Ich begann, die Teile zusammenzusetzen, es war wie in einem dunklen Raum, in dem sich die Augen langsam an das Licht gewöhnen, um schließlich Nuancen wahrzunehmen, hellere Töne, mögliche Formen und schwärzeres Schwarz. Am Schluss fehlte ein Stück.
    Ich überlegte, dem Künstler eine Notiz zu hinterlassen, und nahm ein Stück der Leinwand, drehte es um und suchte einen Stift. Doch mir fiel nicht ein, was ich schreiben sollte. Ich ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Fluss. Die Leuchtschrift der alten Papierfabrik auf der anderen Seite warf einen roten Schein auf das dunklere Wasser. Am Fenster klebte ein postkartengroßer Ausschnitt aus einem Magazin, das Bild einer Vorstadtgegend, in England wahrscheinlich, eine Frau mit einem kurzen

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