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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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Ungeheuer zwar, aber wichtig. Sie war ja immer die Frau mit dem Kopf im Gasherd, sagte er. Sie hatte eine Affäre mit seinem fünfzehnjährigen Bruder, sagte er weiter, von seinen Geschichten will ich erst gar nicht reden. Und immer wieder wächst das Gras über die Grenze und das Gras muss ausgerissen werden, immer neu, das über die Grenze wächst, deklamierte Lorenzen, und der Stacheldraht, ich weiß nicht mehr weiter. Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, wollte ich sagen, doch dies war nicht von Heiner Müller.
    Ich war gerade erst aus der kleinen Stadt zurückgekehrt, wo mein Großvater im Sterben lag und, nachdem ich wieder gefahren war, auch starb. Mein Großvater war krank geworden, ganz plötzlich, nachdem er einige Wochen im Altersheim war, weil es nicht mehr ging, alleine in der Wohnung. Mein Großvater war sechsundneunzig Jahre alt gewesen, erst seit einem Jahr ging es abwärts, wie man sagt. Schließlich war es nur eine Erkältung, an der er starb.
    Ich weiß schon, hatte er zu mir gesagt, als ich ihn im Sommer noch besucht hatte und wir die stark befahrene Landstraße entlangspazierten, es gab keinen Gehsteig, also gingen wir hintereinander auf dem schmalen Streifen Gras zwischen der Straße und der durch einen Zaun abgetrennten Weide, ich weiß schon, dass sie es nur gut meinten. Wir hatten einen kleinen Spaziergang gemacht und waren auf dem Rückweg ins Altersheim. Sie haben mir erklärt, dass es das Beste wäre, jetzt, kein Wunder, sagte mein Großvater. Kein Wunder, wiederholte er, bei allen Problemen, die sich jetzt häuften, bei den sich stapelnden Rechnungen und der vielen Werbung, den Unfällen und Vergesslichkeiten und dem Gebiss, das ich im Bus verloren hatte. Aber ich habe einfach gedacht, es ginge so weiter wie immer. Daher bin ich so überrascht gewesen, so ungeheuer überrascht, überrumpelt, könnte man fast sagen, sagte mein Großvater. Natürlich konnte mein Großvater gar nicht so ungeheuer überrascht sein, da man seit Jahren darüber sprach, und er seit nunmehr sieben Monaten auf ein freies Zimmer im örtlichen Altersheim gewartet hatte. Die Lastwagen fuhren derart nah vorbei, dass ihr Luftzug uns erschütterte. Ich fürchtete, mein Großvater würde schwanken, doch er ging schnurgeradeaus und setzte sorgsam einen Fuß vor den anderen. Als ein Bus vorbeifuhr, winkte er dem Busfahrer zu, den er wahrscheinlich kannte. Auf der anderen Straßenseite erhob sich ein dichtbewaldeter Hügel, auf dem ich später spazieren ging, als das Laub schon rot geworden war und mein Großvater im Sterben lag.
    Das freut mich aber, dass es dir gut geht in der großen Stadt, meinte mein Großvater dann. Ich hatte ja immer ein düsteres Bild von dieser Stadt, sagte mein Großvater, ich dachte immer, da müsse alles eng und dunkel sein. Ich dachte an den Kohlenstaub und die Dämmerung um halb vier Uhr nachmittags, doch ich wusste, dass mein Großvater von etwas Anderem redete, dass er von den Bildern der Wochenschau sprach, vom Volk der Deutschen und von der Angst, damals. Es ist gut, dass du in die Weite gehst, sagte mein Großvater, während wir die dicht befahrene Landstraße entlanggingen. Es scheint mir fast so, dass im selben Maße, wie du in die Weite gehst, bei mir nun alles immer weniger wird, dass ich alles aufgeben muss, was mir je lieb war; die Wohnung, in der ich mit deiner Großmutter lebte, alles.
    Du hast doch keine Ahnung, was Demut heißt, sagte Lorenzen. Ich wollte etwas erwidern, etwas von der eigenen Nichtigkeit in Bezug auf etwas Größeres. Ich wollte etwas entgegnen, von schwarzen Zypressen vor einem noch schwärzeren Himmel, von den Sternen über mir und von der Lust, auf die Knie zu gehen und mit dem Gesicht nach unten zu liegen. Doch die Zypressengeschichte war nicht meine Geschichte, ich hatte sie nur gelesen.
    Es war ein Sonntag, erzählte ich Lorenzen, in New York war das; ich hatte meine Wäsche im chinesischen Waschsalon abgeholt und stand mit der Tüte gewaschener und gebügelter Wäsche, auf welcher Thank You auf Englisch und wohl auch auf Chinesisch stand, an der Ecke Broome Street und Orchard. Ich hatte gerade versucht, von einer Telefonzelle nach Europa anzurufen. Dies erzählte ich Lorenzen natürlich nicht, dass ich jeden Tag, bei Regen, Wind und Straßenlärm, von einer dieser Telefonzellen, die man nicht einmal Zelle nennen konnte, da sich das Telefon im Freien an irgendeiner Hauswand oder an einem Verkehrsmasten befand, dieselbe Nummer wählte. Auf der anderen Seite

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