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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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des Ozeans war es schon Nachmittag, die etwas heisere Stimme sagte: Ich bin nicht da, bitte hinterlassen sie eine Nachricht, was ich nicht tat.
    Ich stand also an dieser Kreuzung, sagte ich zu Lorenzen, als diese Frau mich am Ellbogen berührte, ganz fein nur, dass ich erst durch den dicken Stoff der Daunenjacke kaum etwas spürte, die Frau zupfte also am Stoff der Winterjacke und sagte: Signorina, could you please help me? Ich drehte mich um und blickte hinunter zu der Frau, die derart winzig war, dass sie mir kaum bis zur Taille reichte, und die ihre Hand schon unter meinen Arm geschoben hatte, bevor ich etwas erwidern konnte. Als das Lichtsignal auf Grün wechselte, überquerten wir die Straße ganz langsam, und obwohl die Straße nicht besonders breit war, wechselte die Ampel, als wir uns auf der Hälfte befanden, schon wieder auf Rot. Ich hielt eine Hand hoch, obwohl kein Auto in der Nähe war, es war Sonntag. Auch die Bowery überquerten wir in diesem Schneckentempo, und die Frau sagte: Lei è come un angelo, così grande e gentile, und ich trug die Wäschetüte in der einen und hielt die federleichte Frau an der anderen Hand und fragte nicht, wohin des Wegs. Da war dieses Sonntagsgefühl und der blaue New Yorker Himmel, so blau, wie er es nur in New York sein kann, als wäre der Himmel blauer und höher als anderswo, und plötzlich hielt die kleine Frau inne. Vor uns an einem Wohnhaus öffnete sie eine Tür, kaum größer als sie selbst, ich hätte mich bücken müssen, um einzutreten. Die Frau bedankte sich und verschwand. Der Raum hinter der Tür war dämmrig dunkel, und außer einiger dieser Kerzen in roten Plastikhüllen, die ich als Kind immer in den katholischen Kirchen in Italien angezündet hatte, ließ sich kaum etwas erkennen. Ich stand noch eine Weile vor der Tür, getraute mich aber nicht einzutreten und brachte dann die Wäsche nach Hause.
    Lorenzen blickte mich mit kleinen Augen an. Ich wusste genau, dass du mit so was kommst, mit einem Glauben, einem katholischen womöglich. Ehrfurcht ist das vielleicht, sagte Lorenzen, Ehrfurcht vor etwas, was wir längst verworfen haben. Aber was hat das mit Demut zu tun? Vom Felsen stürzen will sich Philoktet, sein Haupt zu zerschmettern, die Glieder alle. Wir hatten über die Stadt geredet, Lorenzen und ich, bevor Lorenzen anfing, über Demut zu sprechen, über die kleine Stadt, aus der ich kam. Lorenzen war auch ein Fremder, vielleicht glaubte ich deswegen, er würde mich verstehen. Es ging mir nicht schlecht dort, sagte ich, wenn da nicht diese Ungeduld gewesen wäre. Ich sage Ungeduld, aber vielleicht war es auch eher eine Art Psychose, die mich immer wieder befiel. Sie kam in den seltsamsten Momenten, wenn ich in der Straßenbahn saß und die gleichmäßig schönen, gelangweilten Gesichter der Menschen um mich herum betrachtete, die Häuser, die teuren Geschäfte und die leuchtend weißen Berggipfel hinter dem See, eine Ungeduld, die sich wie eine Krankheit in mein Gehirn fraß und mich insgeheim auf zehn zählen ließ wie ein Kind, das wartet, bis die Angst vorbeigeht, statt die Artikel in den Gratiszeitungen zu lesen, eine Ungeduld, die mich, wenn ich an einer Straßenkreuzung stand, insgeheim denken ließ: rot, orange, grün, quälend langsam, wie die Ampel, die die Farben wechselt. In anderen Ländern gibt es wenigstens nur rot und grün, sagte ich zu Lorenzen, und man ist der Willkür vollends ausgeliefert. Doch nicht nur an Straßenkreuzungen, sondern auch in gänzlich unpassenden Situationen, dachte ich: rot, orange, grün, wie ein böses Omen, beim Zähneputzen, in einer Vorlesung oder wenn ich mich mit bekannten Gesichtern unterhielt, bis ich manchmal nur noch rot, orange, grün dachte, rot, orange, grün, orange, rot, orange, grün, orange und wieder rot. Manchmal dachte ich, verrückt zu werden. Dann zog ich weg.
    Ich war gerade erst aus der kleinen Stadt zurückgekehrt, wo mein Großvater lag und im Begriff war zu sterben. Über dem Altersheimbett hing der heilige Georg, ein russisches oder bulgarisches Ikonenbild.
    Eine Schwester brachte Milchreis und Apfelmus, was mein Großvater immer gemocht hatte, doch er sagte, nein, ich kann das nicht mehr essen, da oben auf dem Schrank steht doch noch der Milchreis von letzter Woche. Auf dem Schrank war natürlich kein alter Milchreis, wahrscheinlich dachte mein Großvater, er sei in seiner alten Wohnung, wo er oft Esswaren an den unmöglichsten Stellen aufbewahrt hatte. Außerdem fürchtete er sich

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