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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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gleich darauf war es eingeschlafen.
    Ich erhob mich leise, setzte mich ins Wohnzimmer und begann zu lesen, in einem Magazin für Eltern, das auf dem Tisch lag. Ich stand wieder auf, lief in Strümpfen über den Dielenboden in die Küche, aß einen Löffel aus dem Topf mit Tomatensugo, der auf dem Herd stand, machte den Kühlschrank auf und schloss ihn wieder. Ich schnupperte an den Mänteln, die im Flur hingen, hob einen Strumpf auf und las einen Einkaufszettel, was ich Lorenzen nicht erzählte; solche Dinge tut man nur, erzählt sie aber niemals jemandem. Ich las auch einen anderen Zettel, auf dem geschrieben stand: Es ist ein Abstand zwischen mir und der Welt. Ich ging wieder in die Küche und goss mir ein Glas Milch ein. Die sämig kühle Flüssigkeit in meinem Mund schmeckte nach nichts und doch nach etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte. Ich goss den Rest der Milch in den Ausguß und drehte den Wasserhahn auf, wie um die Spuren zu beseitigen. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
    Ich hörte zuerst das Gewitter, dann erst hörte ich das Kind, sagte ich zu Lorenzen. Es musste schon eine Zeitlang geschrien haben, ich schloss das Fenster und drückte das nassgeschwitzte Kind an mich. Es hörte nicht auf. Ich fürchtete, dass etwas mit dem Kind nicht in Ordnung war, dass ich zu spät gekommen sei, was wusste ich schon von dem Kind. Doch dann hörte es plötzlich auf zu schreien, es war eingeschlafen. Ich legte es ins Bett, deckte es zu und legte mich daneben. Dann stand ich auf und ging ins Wohnzimmer, weil Jeanne bald nach Hause kommen sollte.
    Lorenzen runzelte die Stirn und blickte mir mit seinem inständigen, leicht vom Alkohol getrübten Blick in die Augen. Das Kind verwechselte dich, es dachte, du wärst jemand anderes. Oder vielleicht dachtest auch du, du könntest jemand anderes sein. Die Liebe beruht meistens auf einer Verwechslung.
    Der heilige Georg, der über dem Bett meines Großvaters hing, hatte einen großen, fast kindlich anmutenden Kopf, er ritt auf einem Pferd, während sich der Drache schlangengleich unter ihm wand.
    Mein Vater hatte uns angerufen und gesagt, dass es wohl nicht mehr lange ginge. Und alle kamen nochmals in das Krankenzimmer, meine Geschwister, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, und mein Großvater, guter Dinge, strahlte und sagte: Das ist aber schön, dass ihr alle noch zu dieser Zusammenkunft gekommen seid. Eine Cousine von mir schlug vor, ein Lied zu singen. Wir begannen zu singen Der Mond ist aufgegangen , weil uns nichts Besseres einfiel. Doch schon bei der zweiten Strophe begann mein Großvater zu rufen: Hört auf, hört auf, rief er. Es ist noch nicht Nacht.
    Du hast doch keine Ahnung, was Demut heißt, sagte Lorenzen. Ich war die Wunde, sagt Philoktet, ich das Fleisch, das schrie. Ein Tag wird kommen, wollte ich sagen, un giorno venira, und von der Frau in dem Film von Antonioni erzählen, der sie in der Psychiatrischen Anstalt erklären, sie solle versuchen, ihre Liebe zu beschränken. Amare una persona o anche una cosa: suo marito, suo figlio, un lavoro o anche un cane. Ma non marito, figlio, lavoro, cane, alberi, fiume …
    Die letzten Jahre war ich in jemanden verliebt, erzählte ich Lorenzen, doch derjenige wollte mich nicht. Ich kam mir vor, in dieser Zeit, wie eine Minnesängerin, denn mein Glück bestand im Licht, das ich in seinem Fenster erblickte, nachdem ich eine Straße zu weit gegangen war.
    Was ich Lorenzen nicht erzählte, war, dass ich, schon bevor ich denjenigen kannte, oft versehentlich zu weit gelaufen war, weil ich die Abzweigung in meine Straße verpasst und dies jeweils erst gemerkt hatte, als ich das große Schild eines Ladens namens AMERICA sah. Ich merkte also, dass ich falsch war, und machte kehrt. Schließlich schien mir alles nur logisch und schlüssig, als ich eines späten grauen Morgens das Haus verließ, in dem er wohnte, und dieses AMERICA-Schild sah. Dies erzählte ich Lorenzen nicht, und auch ihm hätte ich es natürlich nie erzählt. Wir trafen uns danach nur selten, erzählte ich Lorenzen, eher zufällig, wir lachten und tranken viel und redeten über die Leute, die wir beide kannten. Ich erzählte wenig von mir. Ein Jahr lang lief ich zwei Straßen zu weit zu dem Haus über dem Schild mit der Aufschrift AMERICA, das später entfernt wurde, da ein Restaurant mit einem anderen Namen einzog. Beinahe jeden Abend schaute ich nach, ob Licht brannte im dritten Fenster des zweiten Stockwerks. Dann zog

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