Das weisse Meer

ich auf die andere Seite des Kanals und ging nur noch selten zu weit auf dem Nachhauseweg. Irgendwann hörte ich ganz damit auf.
    Und das nennst du Demut, sagte Lorenzen, Hoffnung ist das vielleicht, aber keine Demut. After millions of years of crying, the sun still shines and shines, wollte ich sagen. Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her, sagte Lorenzen, und ich musste lachen. Die Stühle waren schon auf die Tische hochgestellt, und durch die Türangel sah man den grauen Morgen. Die schmeißen uns gleich hier raus, meinte Lorenzen, der Kellner blickte zu uns herüber und hob die Augenbrauen. Lorenzen blickte mich an, seine müden Augen waren die des Philoktet. Ich war gerade erst aus der kleinen Stadt zurückgekommen, in der mein Großvater gestorben war, und ich saß hier mit Lorenzen, statt nach Hause zu gehen. Eigentlich habe ich das gar nicht so ernst gemeint, sagte Lorenzen, die Sache mit der Demut. Ich meine, was heißt schon Demut. Das war doch ein Witz. Ich dachte, du nimmst das nicht ernst. Du bist aber derart darauf eingestiegen. Ich blickte Lorenzen an, und wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre, wäre ich aufgestanden und gegangen. Geh du voran, sagt Odysseus nach dem Mord an Philoktet zu Neoptolemos, geh schneller, dass nicht deine Wut verraucht.
    Eines wollte ich unbedingt noch tun für Rosa, sagte mein Großvater später, ich wollte doch noch alle Augen unter ein Dach bringen. Meine Großmutter Rosa war seit über zwanzig Jahren gestorben. Ihr Bild stand auf seinem Nachttisch im Altersheim, ein Bild zwar noch vor der Krankheit, doch ihre Augen schienen schon damals nach innen zu schauen. Als er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle, habe sie nichts gesagt. Erst Jahre später habe sie ihn beiseitegenommen und gesagt: Selbst wenn ich nicht empfinde wie du, ich will dir eine treue Frau und Gefährtin sein. Man sagte jedoch auch, dass sie vor der Hochzeit noch einmal unsicher wurde und ihre Schwester fragte, ob nicht sie ihn heiraten wolle.
    Mein Großvater hatte ihr ein Haus gebaut, in dem Dorf in den Bergen, das hieß wie die Träume, Osogna; ein Haus mit vielen Zimmern, die nach den durch die Fenster sichtbaren Bergen benannt waren; in jedem Zimmer gab es mehrere Betten, nebeneinander und übereinander, sogar auf dem Dachboden gab es noch herunterklappbare Betten, dass selbst bei Dutzenden Kindern und Enkeln alle einen Platz gefunden hätten. Kommt her, ihr lieben Kinderlein, ich will eure Mutter sein , stand zuoberst, unter dem Dachgiebel, in das vom Wetter fast schwarzgedunkelte Holz eingeschnitzt, und an der Haustüre stand: Heim , ihr Name und Mädchenname darunter.
    Ich wollte endlich alle Augen unter ein Dach bringen, für Rosa, sagte mein Großvater nochmals. Er konnte sich sonst an keine Namen mehr erinnern. Er zeigte auf das Dreieck, das über dem Altersheimbett hing, als wäre dies das Dach, und fragte: Was meinst du, wie viele Augen passen unter ein Dach?
    Am letzten Morgen schlief mein Großvater, und meine Tante hatte müde Augen. Ich aß das Apfelmus, das mein Großvater nicht mehr essen wollte. Wir hörten die Matthäuspassion, Oh Haupt voll Blut und Wunden. Mein Großvater schien kaum noch zu atmen, ich beugte mich zu ihm herunter, da sah ich das Pferd des heiligen Georgs durch das Dreieck des Haltegriffs, der über dem Bett meines Großvaters hing. Leise nahm ich das Bild des mit dem Drachen kämpfenden heiligen Georgs herunter und hängte ein Bild mit gelben Sonnenblumen an dessen Stelle. Dann saß ich im Zug, das herbstlich rote Land hinter den Fenstern.
    Wir sollten nach Hause gehen, sagte Lorenzen, es ist spät. Wir bezahlten, und ich verabschiedete mich draußen von Lorenzen, der im fahlen Licht der Morgendämmerung plötzlich sehr alt und müde aussah. Nicht einmal wie Philoktet sah er aus, nur müde und alt. Schlaf gut, sagte Lorenzen und gab mir die Hand.

Unter Wasser
    Wenn wir auch nicht darüber sprachen, wussten mein Bruder Paul und ich, dass es keine Kröten mehr gab am Ufer des Mondsees. Sie hatten an jenem Juliabend den beschwerlichen Weg über die Hauptstraße auf sich genommen, um einen anderen Teich zu bevölkern. Alles, was an den Prozessionszug unzähliger Kröten und Laubfrösche erinnerte, waren die zerquetschten braungrünen Leiber, bald mit Schmeißfliegen übersät, die auf dem heißen Asphalt liegen blieben.
    Mahnmale gegen das Vergessen. Als ob wir irgendetwas hätten vergessen können. Paul und ich gingen nicht mehr zum