Das Weltgeheimnis (German Edition)
Leichtgläubigkeit.
Kepler ist ein kongenialer Mitdenker. Er besitzt die Gabe, sich auf die Erfahrungen anderer einzulassen, eigene Denkmuster zu verlassen und lieb gewonnene Ansichten gegebenenfalls über Bord zu werfen. Sofort fasst er Vertrauen in das neue Instrument. Kaum hat er von Galileis Verwendung der »zweifachen Linse« erfahren, ist ihm, als hätte er die Konstruktion selbst aushecken können. Wenn er nur früher so klar gesehen hätte wie jetzt!
»Vielen scheint der Gedanke eines so starken Fernrohres unglaublich«, teilt er Galilei mit. »Aber unmöglich oder neu ist er keineswegs.« Ausführlich zitiert er den vermeintlichen Vordenker, Giambattista della Porta, und dessen Ansichten über die Wirkungen der Kristalllinse. Er weist Galilei auch auf eigene Studien zu Brillengläsern und Linsen hin, die er vor sechs Jahren in einem Büchlein zusammengefasst hat, der Astronomia Pars Optica , einem maßgeblichen Werk auf dem Gebiet der optischen Theorie.
Kepler vermutet, dass irgendein fleißiger Handwerker durch Zufall auf den Zuschnitt des Fernrohrs gekommen ist. »Ich sage das nicht, um den Ruhm des erfinderischen Mechanikers zu schmälern, wer der auch gewesen sein mag. Ich weiß wohl, wie groß der Unterschied ist zwischen rein verstandesmäßigen Überlegungen und dem sichtbaren Experiment, zwischen der Disputation des Ptolemäus über die Antipoden und der Entdeckung der neuen Welt durch Kolumbus, so auch zwischen den allgemein verbreiteten zweilinsigen Tuben und deinem Kunstwerk, Galilei, mit dem du sogar den Himmel durchstoßen hast.«
Er selbst hat das Rohr mit den zwei Linsen bisher kaum beachtet, nun spricht er unverblümt von seinen Irrtümern. Völlig falsche Vorstellungen habe er sich von der scheinbar undurchdringlichen Dichte und bläulichen Farbe der Luft sowie von der Natur der eigentlichen Himmelssubstanz gemacht.
»Nun aber, erfindungsreicher Galilei, preise ich deinen unermüdlichen Fleiß, wie er es verdient. Du hast alle Hemmungen beiseite geschoben, bist geradewegs darauf ausgegangen, deine Augen die Probe machen zu lassen, und hast, da nun durch deine Entdeckungen die Sonne der Wahrheit aufgegangen ist, alle jene Gespenster der Ungewissheit mit ihrer Mutter, der Nacht, vertrieben und durch die Tat gezeigt, was gemacht werden konnte. Unter der Kraft deines Beweises anerkenne ich die unglaubliche Feinheit der himmlischen Substanz.«
In den folgenden Absätzen seines Briefes bietet Kepler sein geballtes Wissen auf dem Gebiet der Optik dar. Als er auf die Funktionsweise des Fernrohrs zu sprechen kommt, ist er ganz in seinem Element. Obwohl er Galileis Instrument bisher nicht hat begutachten können, führt er detailliert aus, was aus seiner Sicht bei der Herstellung der Linsen zu beachten ist. Auch ohne Anschauung ist ihm klar, dass eine in einer Kugelschale geschliffene, sphärische Linse die Lichtstrahlen nicht alle in einem Brennpunkt zusammenführt. Die vom Rand her kommenden Lichtstrahlen werden von einer solchen Objektivlinse stärker gebrochen, das Bild ist dadurch leicht verschwommen. Kepler schlägt ein System aus mehreren Linsen vor oder, alternativ dazu, eine einzelne Linse mit hyperbolischer Oberfläche. Sein wegweisender Gedanke scheitert allerdings vorerst an den praktischen Möglichkeiten. Es ist für Brillenmacher bereits eine ziemliche Herausforderung, kugelförmige Linsen so genau zu schleifen, dass sie für ein Fernrohr taugen.
Mit jedem neuen Satz steigen die Hoffnungen, die Kepler in das Gerät setzt. »Soll ich dir sagen, was ich denke? Ich wünsche mir dein Instrument bei der Beobachtung einer Mondfinsternis.« Der Erfinder hält jedoch vorerst die Hand auf sein Fernrohr und wahrt seinen Anspruch auf weitere Entdeckungen. So bleibt dem kaiserlichen Mathematiker nichts anderes übrig, als zur Kenntnis zu nehmen, was Galilei angeblich durch die Linsen gesehen hat.
Neue Meere des Denkens
Da wäre zunächst der Mond, dem sich Kepler gerade in seinem Traum gewidmet hat und dem daher sein besonderes Interesse gilt. Durch Galileis Beobachtungen sieht er sich in seiner Vermutung bestätigt, dass auch der Mond Berge und Täler besitzt. Er zollt Galileis nächtelangen Musterungen des Schattenwurfs und der Lichtflecken gehörigen Respekt.
»Was soll ich über deine peinlich genaue Untersuchung an den altbekannten Mondflecken sagen?« Unumwunden räumt er ein, selbst die falschen Schlüsse gezogen zu haben. Hatte er doch Plutarch, der die dunklen Mondflecken für
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