Das Weltgeheimnis (German Edition)
Vorposten des Herzogtums Mailand konnte diese Kanonenarmee binnen ein oder zwei Stunden Mauern zerstören, von denen sich die Bewohner Schutz und Zuflucht für Monate versprochen hatten«, so der Soziologe und Historiker Richard Sennett. Hinter den Stadtmauern, die im Mittelalter immer weiter in die Höhe gebaut wurden, ist man plötzlich nicht mehr sicher.
Auch ohne Rückgriff auf Leonardos Technikvisionen wächst die Waffengewalt der Artillerie im Laufe des 16. und 17. Jahrhundert weiter. Die anfänglichen Bronzekanonen werden durch billigere Eisenkanonen ersetzt, und als 1618 der Dreißigjährige Krieg beginnt, sind solche Geschütze schon zu Massenwaffen geworden. Im Jahr 1629 erobern zum Beispiel niederländische Truppen, ausgerüstet mit rund hundertdreißig Kanonen, die Stadt Herzogenbusch, deren Festung ehedem als nahezu uneinnehmbar gegolten hatte.
Gegen die neuen Angriffswaffen wappnen sich viele Städte mit aufwendigen Verteidigungsanlagen. Anstelle von hohen Mauern legen sie sternförmige Wälle in größerem Abstand zu Gebäuden und Plätzen an, Bastionen an ihren Eckpunkten dienen als Geschützstellungen. In Italien entstehen noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die ersten Festungen dieser Art, zum Beispiel in Padua, wo beim Bau der neuen Befestigungsanlage selbst auf Klöster und Kirchen wenig Rücksicht genommen wird. Auch Städte wie Graz lassen sich von italienischen Baumeistern mit Wällen und Gräben sichern.
Die kostspielige Militärarchitektur folgt streng geometrischen Gesichtspunkten. Unter Berücksichtigung der Reichweite der Kanonen sind die Bastionen so ausgerichtet, dass sie sich gegenseitig sichern können und keine toten Winkel entstehen, die es dem Feind erlauben würden, die Bollwerke unbedrängt zu stürmen. Ohne Kenntnisse der Perspektive und ihrer mathematischen Gesetze ist der neue »Krieg auf Distanz« nicht zu führen.
Professor mit Nebenverdiensten
Galilei zeigt ein ausgeprägtes Interesse am Festungsbau, den Schusslinien und Kalibern von Kanonenkugeln. Seit er 1592 in die Republik Venedig übergesiedelt ist, nehmen militärische Fragen einen breiteren Raum in seiner Arbeit ein. Zwar ist er nicht am Hof eines Fürsten angestellt, sondern Professor an der traditionsreichen Universität Padua. Aber etliche der technischen Probleme des beginnenden Artilleriezeitalters, mit denen er sich hier befasst, rücken ihn in eine größere Nähe zu Leonardo als zu Mathematikerkollegen wie Giovanni Antonio Magini von der Nachbaruniversität Bologna.
Gleich zu Beginn seiner Zeit in Padua entstehen zwei Manuskripte über die Kunst des Festungsbaus. Denkanstöße in diese Richtung hat er von seinem wichtigsten Gönner, Guidobaldo del Monte, bekommen, der eigene, für Galilei inspirierende Experimente zur Mechanik macht und ihm nach der Professur in Pisa den viel attraktiveren Posten in der Republik Venedig vermittelt hat.
Auf seiner Burg in der Nähe von Pesaro treffen sich die beiden 1592 sogar zu einem gemeinsamen Experiment: Sie tauchen eine Kugel in Tinte und werfen sie über eine schräge Fläche, sodass sich ihre Spur auf der Unterlage abzeichnet. Ob es sich bei dieser Flugbahn um eine Parabel oder eine ihr nur ähnliche Kurve handelt, können sie anhand dieses einfachen Experiments noch nicht mit der dafür nötigen Genauigkeit bestimmen. Klar ist nur, dass die symmetrische Form der Bahn überhaupt nicht dem entspricht, was in gängigen Publikationen zur Ballistik zu finden ist.
Guidobaldo del Montes Interesse an derartigen Fragen ist verständlich, schließlich beaufsichtigt er die Festungen der Medici in der Toskana – eine typische Aufgabe für einen Gelehrten seines Formats. Als Militäringenieur gehört er zu den Spitzenverdienern der Epoche. Von Francesco di Giorgio über dessen Schüler Leonardo da Vinci bis hin zu Galileis Mathematiklehrer Ostilio Ricci haben viele in dieser Funktion Karriere gemacht. An solchen Vorbildern orientiert sich auch Galilei. Er zieht seinen Privatunterricht in Padua ähnlich auf wie sein ehemaliger Lehrer Ricci.
Padua genießt mit seinen 1000 bis 1500 Studenten einen internationalen Ruf. Als Galilei hier eintrifft, tobt ein erbitterter Streit zwischen der Universität und den Jesuiten, die in Padua eine eigene Hochschule mit komplettem Fächerangebot gründen möchten. Hintergrund des Konflikts ist die päpstliche Bulle von 1564, in der festgelegt wurde, dass die Erlangung akademischer Grade künftig an das Bekenntnis zum
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