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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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zog man Grenzen zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Philosophie. Geistliche, die sich zugleich als Botaniker oder Geologen betätigten, wurden zunehmend seltener, da ihre Naturforschungen zu viele Zweifel an biblischen Wahrheiten aufkommen ließen. Einst offenbarte sich Gott in den Wundern der Natur – nun stellten dieselben Wunder Gott in Frage. Und die Gelehrten mussten sich plötzlich für eine der beiden Seiten entscheiden.
    Während alte Überzeugungen ins Wanken gerieten und auf dem immer brüchiger werdenden Untergrund erzitterten, gab sich Alma Whittaker – allein auf White Acre – ihren eigenen gefährlichen Gedanken hin. Sie grübelte über Thomas Malthus und seine Theorien zum Bevölkerungswachstum, zu Krankheiten, Katastrophen, Hungersnöten und Vernichtung. Sie grübelte über John William Drapers großartige neue Photographien des Mondes. Sie grübelte über Louis Agassiz’ These, die Welt sei einst von einer Eiszeit heimgesucht worden. Eines Tages unternahm sie einen langen Spaziergang zum Museum in der Sansom Street, um sich das gänzlich rekonstruierte Skelett eines mächtigen Mastodons anzusehen, was sie wiederum dazu führte, über das hohe Alter dieses und im Grunde aller Planeten nachzusinnen. Sie befasste sich weiter mit Algen und Moosen und der Frage, wie sich eins ins andere verwandelt haben könnte. Vor allem widmete sie sich wieder dem Dicranum und fragte sich aufs Neue, wie diese Moosgattung in so vielen Formen vorkommen konnte, die sich nur in Winzigkeiten unterschieden. Was war es, das all diese Hunderte und Aberhunderte von Umrissen und Anordnungen geformt hatte?
    Zum Ende des Jahres 1850 brachte George Hawkes Ambroses Orchideenbuch heraus, eine umfassende, aufwendige und kostspielige Publikation mit dem Titel Die Orchideen Guatemalas und Mexikos . Wer immer mit dem Buch in Berührung kam, erklärte Ambrose Pike zum besten botanischen Künstler des Jahrhunderts. Die angesehensten botanischen Gärten wollten Mr Pike mit der Dokumentation ihrer Sammlung beauftragen – doch Ambrose Pike war fort, verschollen auf einer Vanilleplantage am anderen Ende der Welt, unerreichbar. Alma verspürte Scham und Schuldgefühle, wusste jedoch nicht, was sie unternehmen sollte. Sie blätterte jeden Tag in dem Buch. Die Schönheit von Ambroses Arbeiten schmerzte sie, doch fernbleiben konnte sie ihnen auch nicht. Sie sorgte dafür, dass George Hawkes ein Exemplar des Buches zu Ambrose nach Tahiti schickte, erfuhr jedoch nie, ob es eingetroffen war. Sie veranlasste, dass Ambroses Mutter, die schreckliche Mrs Constance Pike, sämtliche Erträge aus dem Verkauf des Buches erhielt. Das zog eine höfliche Korrespondenz zwischen Alma und ihrer Schwiegermutter nach sich. Mrs Constance Pike stand fatalerweise unter dem Eindruck, ihr Sohn sei seiner Frischangetrauten davongelaufen, um seinen waghalsigen Träumen nachzujagen – und Alma beließ sie noch fatalererweise in diesem irrigen Glauben.
    Einmal im Monat besuchte Alma ihre alte Freundin Retta in der Griffon-Anstalt. Retta wusste längst nicht mehr, wer Alma war – und offenbar auch nicht, wer sie selber war.
    Ihre Schwester Prudence besuchte Alma nicht, doch hin und wieder erhielt sie Nachricht von ihr. Armut und Abolitionismus, Abolitionismus und Armut – immer die gleiche grausige Geschichte.
    Alma machte sich Gedanken darüber, wusste jedoch nicht recht, was sie davon halten sollte. Warum hatte sich ihrer aller Leben so und nicht anders entwickelt? Wieder dachte sie an die vier verschiedenen Varianten von Zeit, wie sie sie einst benannt hatte: die göttliche Zeit, die geologische Zeit, die Menschenzeit und die Mooszeit. Fast schien es ihr, als habe sie ihr ganzes Leben lang den Wunsch gehegt, im gemächlichen, mikroskopisch kleinen Reich der Mooszeit zu leben. Das allein war schon eine reichlich sonderbare Sehnsucht, doch dann hatte sie Ambrose Pike kennengelernt, dessen Wünsche die ihren noch bei weitem übertrafen: Er wollte sein Leben in der endlosen Leere der göttlichen Zeit fristen – mit anderen Worten: ganz und gar außerhalb der Zeit leben. Und er wollte, dass sie dort mit ihm lebte.
    Eines stand indessen fest: Die Menschenzeit war die traurigste, schaurigste, verstörendste Variante der Zeit, die man sich denken konnte. Alma gab sich größte Mühe, sie nicht weiter zu beachten.
    Und doch, die Tage vergingen.
    •
    An einem kühlen, regnerischen Morgen Anfang Mai 1851 traf auf White Acre ein Brief ein, der an Henry Whittaker

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