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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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verlangte Sir Joseph Banks von ihm, diese Rinde lediglich zu erforschen, wenn man sie auch verkaufen konnte? Und wo stand geschrieben, dass man sie nur in diesem unzugänglichen Teil der Welt produzieren konnte? Henry erinnerte sich an die Worte seines Vaters, der ihm erklärt hatte, dass alle für die Menschheitsgeschichte bedeutsamen Pflanzen erst gesammelt und dann kultiviert worden waren und dass es weitaus ineffizienter war, nach einem Baum zu suchen (indem man zum Beispiel auf der Jagd nach dem verfluchten Ding die Anden erklomm), als ihn zu kultivieren (indem man herausfand, wie man ihn woanders, in einem beherrschbaren Umfeld, anbauen konnte). Er wusste, dass die Franzosen im Jahre 1730 versucht hatten, Chinarindenbäume nach Europa zu verpflanzen, und er glaubte auch zu wissen, warum es ihnen nicht gelungen war: Weil sie die Höhenlage nicht bedacht hatten. Man konnte diesen Baum nicht im Loiretal anpflanzen. Chinarindenbäume brauchten dünne Höhenluft und einen feuchten Wald, was es in Frankreich nicht gab. In England auch nicht. Und übrigens auch nicht in Spanien. Ein Jammer. Klima ließ sich nicht exportieren.
    In den vier Jahren, die Henry nachgedacht hatte, war ihm gleichwohl etwas eingefallen: Indien. Henry wäre jede Wette eingegangen, dass der Chinarindenbaum in den kühlen, feuchten Ausläufern des Himalaya bestens gedeihen würde. Er war zwar nie dort gewesen, hatte jedoch von britischen Offizieren in Macao davon gehört. Und warum sollte man diesen nützlichen Baum eigentlich nicht in der Nähe von Malariagebieten anpflanzen, mit anderen Worten dort, wo er gebraucht wurde? Jesuitenrinde war in Indien zur Bekämpfung der kräftezehrenden Fieberausbrüche unter britischen Soldaten und einheimischen Arbeitern außerordentlich begehrt. Derzeit war diese Arznei viel zu teuer, um sie einfachen Soldaten und Arbeitern zu verabreichen, doch das konnte sich ja ändern. Die Preise, die man auf den europäischen Märkten für Chinarinde erzielte, lagen um zweihundert Prozent über dem, was die Rinde in ihrem Herkunftsland kostete, und den größten Teil dieses Preisaufschlags verursachte die Verschiffung. Es war an der Zeit, den Baum nicht mehr zu suchen, sondern ihn gewinnorientiert zu kultivieren, und zwar unweit der Gegenden, wo er bitter nötig war. Henry Whittaker, inzwischen vierundzwanzig Jahre alt, glaubte, dass er der richtige Mann dafür war.
    Zu Beginn des Jahres 1785 verließ er Peru, im Gepäck nicht nur seine gesammelten Notizen, ein umfangreiches Herbarium und in Leinen gewickelte Proben, sondern auch Wurzelstecklinge sowie einige zehntausend Samen der Roten Chinarinde. Darüber hinaus nahm er diverse Paprika-Arten, etwas Kapuzinerkresse und ein paar seltene Fuchsien mit. Sein eigentlicher Schatz war freilich der geheime Samenvorrat. Henry hatte zwei Jahre auf diese Samen warten müssen, so lange, bis der Frost seine besten Bäume in der Blütezeit verschont hatte. Einen Monat lang hatte er die Samen in der Sonne getrocknet, alle zwei Stunden gewendet, damit sie nicht schimmelten, und nachts in Leinen eingeschlagen, um sie vor Kälte und Tau zu schützen. Er wusste, dass Pflanzensamen lange Seereisen nur selten überlebten (sogar Banks war es nicht gelungen, sie von seinen Expeditionen mit Cook heil nach Hause zu bringen), deshalb beschloss Henry, mit drei unterschiedlichen Verpackungstechniken zu experimentieren. Einige der Samen wurden in Sand gepackt, andere in Wachs eingebettet und wieder andere lose in getrocknetem Moos transportiert. Zum Schutz gegen die Feuchtigkeit stopfte er alle Samen in Rinderblasen, die er zur Tarnung in Alpakawolle wickelte.
    Da die Spanier noch das Monopol auf Chinarinde ausübten, war Henry nun ganz offiziell ein Schmuggler. Folglich mied er die belebte Pazifikküste und reiste über Land gen Osten, quer durch Südamerika. Sein Pass wies ihn als französischen Tuchhändler aus. Mit seinen Maultieren, ehemaligen Sklaven und traurigen Indianern nahm er die Diebesroute, die von Loxa zum Zamora-Fluss und anschließend den Amazonas entlang zur Atlantikküste führte. Von dort segelte er nach Havanna, dann nach C á diz und schließlich heim nach England. Insgesamt dauerte die Rückreise anderthalb Jahre. Er bekam es nicht mit Piraten zu tun und auch nicht mit nennenswerten Stürmen oder kräftezehrenden Krankheiten. Er verlor keine seiner Pflanzen. Es war gar nicht so schwer.
    Sir Joseph Banks, so dachte er, würde hocherfreut sein.
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    Sir Joseph Banks war

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