Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Henry war nur ein einziges Gesprächsergebnis denkbar: Banks würde die Idee brillant finden und begrüßen, er würde Henry dem zuständigen Verwalter im India Office vorstellen, sämtliche Genehmigungen einholen, die Finanzierung sicherstellen und dieses ehrgeizige Projekt im Idealfall schon am nächsten Nachmittag auf den Weg bringen. In Henrys Träumen hatte sich die Chinarindenplantage am Himalaya bereits prächtig entwickelt, und er war längst der mit phantastischem Reichtum gesegnete Mann, der zu werden ihm Joseph Banks einst versprochen hatte. Selbstverständlich hatte er auch schon als Gentleman Einlass in die höheren Kreise von London gefunden. Vor allem aber ließ Henry sich dazu hinreißen zu glauben, er und Joseph Banks seien bereits gute, enge Freunde.
Mag sein, dass Henry Whittaker und Sir Joseph Banks gute, enge Freunde hätten werden können, wäre da nicht das klitzekleine Problem gewesen, dass Henry Whittaker für Sir Joseph Banks niemals etwas anderes gewesen war als ein kleiner, schlechterzogener und zum Diebstahl neigender Arbeitssklave, dessen Lebenszweck einzig und allein darin bestand, sich im Dienste von Menschen, die über ihm standen, das Mark aus den Knochen saugen zu lassen.
»Außerdem«, sagte Henry zu Banks, der den Angriff auf seine Gefühle, seine Ehre und seinen Salon noch nicht verdaut hatte, »denke ich, dass wir über meine Ernennung zum Mitglied der Royal Society sprechen sollten.«
»Wie bitte?«, fragte Banks. »Wer zum Teufel hat dich zum Mitglied der Royal Society ernannt?«
»Ich hoffe darauf, dass Sie es tun werden«, sagte Henry. »Als Lohn für meine Arbeit und mein Genie.«
Banks verschlug es die Sprache. Lange. Die Augenbrauen hoben sich ohne sein Zutun bis unter den Haaransatz. Als er Luft holte, gab es ein zischendes Geräusch. Dann tat er etwas für die Zukunft des Empires überaus Bedauerliches: Er lachte. Er lachte so herzhaft, dass er sich die Tränen aus den Augen wischen musste, mit einem Taschentuch aus belgischer Spitze, das möglicherweise mehr gekostet hatte als das ganze Haus, in dem Henry Whittaker aufgewachsen war. Nach einem ermüdenden Tag tat ihm das Lachen gut, und er gab sich seinem Frohsinn mit Leib und Seele hin. Er lachte so schallend, dass sein Diener, der draußen stand, angesichts eines derart plötzlichen Heiterkeitsausbruchs neugierig den Kopf zur Tür hereinsteckte. Er lachte so schallend, dass er kein Wort herausbrachte. Was vermutlich am besten war, denn auch ohne Gelächter hätte er nur schwerlich Worte gefunden, um der Absurdität dieser Idee Ausdruck zu verleihen: der Vorstellung, dass Henry Whittaker, der normalerweise vor neun Jahren am Galgen von Tyburn hätte baumeln müssen, der das bleiche Mardergesicht eines geborenen Langfingers hatte, dessen erbärmliche Briefe für Banks jahrelang eine unvergleichliche Quelle der Belustigung gewesen waren und dessen Vater (armer Mann!) sein Leben in der Nachbarschaft von Schweinen fristete – dass dieser junge Betrüger nun erwartete, in die angesehenste und vornehmste wissenschaftliche Vereinigung von ganz England aufgenommen zu werden! Was für ein Stück aus dem Tollhaus!
Präsident der Royal Society war selbstredend niemand anders als der hochgeschätzte Sir Joseph Banks persönlich – was Henry genau wusste –, und wenn Banks einen verkrüppelten Dachs zum Mitglied ernannt hätte, dann hätte man diese Kreatur willkommen geheißen und ihr sogar eine Ehrenmedaille gewidmet. Doch einen Henry Whittaker willkommen heißen? Zulassen, dass dieser dreiste Gauner seiner unleserlichen Unterschrift die Initialen RSF , Mitglied der Royal Society, hinzufügen durfte?
Nein.
Als Banks zu lachen begann, zog sich Henrys Magen zusammen und verdichtete sich zu einem kleinen, harten Würfel. Um seinen Hals schien sich eine Schlinge zu legen. Er schloss die Augen und dachte an Mord. Er war imstande, einen Mord zu begehen. Er stellte ihn sich vor, überdachte die Folgen. Er hatte viel Zeit, über Mord nachzudenken, während Banks immer weiter lachte.
Nein, beschloss Henry. Kein Mord.
Als er die Augen wieder aufschlug, lachte Banks immer noch, und Henry war nicht mehr derselbe Mensch. Alles, was er sich bis zu diesem Morgen an Jugend bewahrt hatte, war ausgelöscht. Von diesem Moment an ging es in seinem Leben nicht mehr darum, wer er werden, sondern was er erreichen konnte. Er würde niemals ein Gentleman werden. Dann eben nicht. Pfeif auf die Gentlemen. Pfeif auf sie alle. Henry würde
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