Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
nicht, was das alles mit Ambrose zu tun haben sollte.
»Es sind Trauernarben«, sagte Tomorrow Morning. »Wenn die Frauen hier auf Tahiti trauern, zerschneiden sie sich die Kopfhaut mit Haifischzähnen. Für europäische Gemüter mag es grausig klingen, das ist mir klar, doch es bietet den Frauen die Möglichkeit, ihren Schmerz zu zeigen und auszuleben. Schwester Manu hat mehr Narben als die meisten, denn sie hat ihre ganze Familie verloren, darunter auch mehrere Kinder. Vielleicht waren wir einander deshalb gleich so zugetan, sie und ich.«
Der galante Ausdruck »einander zugetan« als Umschreibung der Bindung zwischen einer Frau, die all ihre Kinder, und einem kleinen Jungen, der all seine Mütter verloren hatte, berührte Alma recht merkwürdig. Er erschien ihr viel zu schwach für diesen Umstand.
Dann fiel ihr eine weitere körperliche Auffälligkeit bei Schwester Manu ein. »Was ist mit ihren Fingern?«, fragte sie und hielt dabei die eigenen Hände hoch. »Den fehlenden Spitzen?«
»Auch dies ist eine Hinterlassenschaft der Trauer. Manchmal schneiden sich die Menschen hier zum Ausdruck ihrer Trauer die Fingerspitzen ab. Das wurde umso einfacher, seit die Europäer uns Eisen und Stahl gebracht haben.« Er lächelte wehmütig. Alma erwiderte sein Lächeln nicht, es war einfach zu grausig. Tomorrow Morning fuhr fort: »Nun zu meinem Großvater, von dem ich noch nicht gesprochen habe: Er war ein rauti . Haben Sie von den rauti gehört? Der Reverend versucht seit Jahren mit meiner Hilfe, dieses Wort zu übersetzen, doch das ist kein leichtes Unterfangen. Mein lieber Vater pflegt den Ausdruck ›Brandredner‹ zu verwenden, was dem Ansehen dieser Stellung freilich nicht gerecht wird. ›Geschichtsschreiber‹ kommt der Sache näher, trifft es jedoch auch nicht völlig. Ein rauti hat die Aufgabe, die Männer zu begleiten, die in den Krieg ziehen, und ihre Moral zu erhalten, indem er ihnen in Erinnerung ruft, wer sie sind. Der rauti singt von den Stammes- und Blutlinien eines jeden Mannes und ruft den Kriegern den Ruhm ihrer Familiengeschichte ins Gedächtnis. Er trägt dafür Sorge, dass sie die Heldentaten ihrer Ahnen nicht vergessen. Der rauti kennt die Abstammung jedes einzelnen Mannes auf der Insel, bis hin zu den Göttern, und er singt ihnen Mut zu. Man könnte es mit einer Predigt vergleichen, wenn auch einer Predigt voller Gewalt.«
»Wie lauteten solche Verse?«, fragte Alma, nun doch bereit, sich auf diese lange, sinnlose Geschichte einzulassen. Er hatte, so nahm sie an, einen Grund dafür, mit ihr hergekommen zu sein, und er hatte sicherlich auch einen Grund, ihr das alles zu erzählen.
Tomorrow Morning ließ den Blick zum Eingang der Höhle schweifen und dachte einen Augenblick nach. »Auf Englisch? Sie haben beileibe nicht dieselbe Kraft, aber sie wären in etwa wie folgt wiederzugeben: › Verströme all deine Wachsamkeit, bis ihr Wille zerbrochen ist! Fahr auf sie herab wie ein Blitz! Du bist Arava, der Sohn des Hoani, der Enkel des Paruto, welcher von Pariti abstammte, der den Lenden des Tapunui entsprang, welcher den Kopf des mächtigen Anapa forderte, den Vater der Aale – dieser Mann bist du! Brich über sie herein wie das Meer! ‹« Die Worte donnerten aus Tomorrow Morning hervor, sie hallten von den Felsen wider, begruben die Brandung unter sich. Dann wandte er sich wieder Alma zu – deren Arme von Gänsehaut bedeckt waren und die sich kaum ausmalen mochte, welche Wirkung solche Worte auf Tahitianisch haben mussten, wenn sie bereits auf Englisch derart aufwühlend waren – und fügte mit seiner normalen Stimme hinzu: »Mitunter sind auch Frauen in den Kampf gezogen.«
»Danke«, sagte Alma, ohne recht zu wissen, wofür sie ihm dankte. »Was ist aus Ihrem Großvater geworden?«
»Er starb, so wie die anderen auch. Nach dem Tod meiner Familie war ich ganz allein. Das ist auf Tahiti kein ganz so schweres Los für ein Kind, wie es das beispielsweise in London oder Philadelphia sein muss. Die Kinder hier erlernen schon früh die Unabhängigkeit, und wer es versteht, auf einen Baum zu klettern und eine Angelschnur auszuwerfen, der kann sich auch ernähren. Man läuft nicht Gefahr, bei Nacht zu erfrieren. Ich ähnelte jenen kleinen Jungen, die Sie vom Strand der Matavai-Bucht kennen, auch wenn ich vielleicht nicht gar so fröhlich war, wie sie es offenbar sind – ich hatte ja keine Bande von Gefährten um mich. Meine Sorge galt nicht dem Darben des Körpers, sondern dem Darben des Geistes,
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