Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Sie in einer bergigen Gegend steil bergauf wandern und dergleichen?«
»Das will ich meinen!« Alma war erneut verstimmt. »Ich habe im Verlauf des letzten Jahres die gesamte Insel durchwandert. Ich habe alles gesehen, was es auf Tahiti zu sehen gibt.«
»Nicht alles, Alma«, berichtigte sie Tomorrow Morning mit gütigem Lächeln. »Beileibe nicht alles.«
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Am nächsten Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, brachen sie auf. Tomorrow Morning hatte ein Kanu für den Ausflug beschafft – kein klappriges kleines Boot, wie es Reverend Welles benutzte, um seine Korallenfarm aufzusuchen, sondern ein echtes Kanu, stabil und gut gearbeitet.
»Wir fahren nach Tahiti Iti«, erklärte er. »Auf dem Landweg würde uns das Tage kosten, doch auf dem Seeweg dürften wir es in fünf bis sechs Stunden schaffen. Sie fühlen sich doch hoffentlich wohl auf dem Wasser?«
Alma nickte. Es fiel ihr schwer zu entscheiden, ob er das nun rücksichtsvoll oder herablassend meinte. Sie hatte einen Bambusschlauch mit frischem Wasser bei sich und etwas poi als Proviant, den sie, in ein Stück Musselin gewickelt, an ihrem Gürtel befestigt hatte. Sie trug das abgetragenere ihrer beiden Kleider, das bereits den schlimmsten Anfechtungen der Insel ausgesetzt gewesen war. Tomorrow Morning bemerkte ihre bloßen Füße, die nach einem Jahr auf Tahiti so abgehärtet und schwielig waren wie die eines Plantagen-Arbeiters. Er sagte nichts dazu, doch sie merkte, dass es ihm auffiel. Auch seine Füße waren nackt. Von den Knöcheln aufwärts jedoch war er der perfekte europäische Gentleman. Zum tadellosen Anzug trug er wie gewohnt ein weißes Hemd, die Jacke allerdings legte er ab, um sie zusammengefaltet als Polster für seinen Platz im Kanu zu verwenden.
Gespräche erschienen sinnlos auf der Fahrt nach Tahiti Iti, der kleinen, rundlichen, zerklüfteten und abgelegenen Halbinsel am anderen Ende Tahitis. Tomorrow Morning musste sich konzentrieren, und Alma verspürte wenig Lust, sich in einem fort umdrehen zu müssen, um das Wort an ihn zu richten. So schwiegen sie denn beide.
Die Fahrt an der Küste entlang war an manchen Stellen ein gefahrvolles Unterfangen, und Alma wäre wohler zumute gewesen, wenn Tomorrow Morning auch für sie ein Paddel mitgebracht hätte; so hätte sie zumindest das Gefühl gehabt, das Ihrige zum Fortkommen des Kanus beizutragen. Doch wenn man ehrlich war, benötigte er ihre Hilfe nicht. Elegant und behände durchpflügte er das Wasser, steuerte ohne Zögern zwischen Riffen und Kanälen hindurch, als hätte er die Strecke schon Hunderte von Malen zurückgelegt – was vermutlich auch der Fall war. Alma war dankbar für ihren breitkrempigen Hut, denn die Sonne brannte heiß, und ihr Widerschein auf den Wellen ließ schwarze Punkte vor ihren Augen tanzen.
Nach fünf Stunden tauchten zu ihrer Rechten die Felsen von Tahiti Iti auf. Zu Almas Entsetzen hielt Tomorrow Morning direkt darauf zu. Würden sie an den Felsen zerschellen? War dies der makabre Zweck dieser Reise? Doch dann entdeckte sie eine Art Torbogen im Fels, eine dunkle Öffnung, den Eingang zu einer Höhle, auf einer Höhe mit dem Meeresspiegel. Tomorrow Morning passte furchtlos eine besonders starke Welle ab und ließ das Kanu dann in einem berauschenden Schwung durch die Öffnung fliegen. Alma war überzeugt, die zurückweichende Strömung müsse sie wieder hinaus ans Tageslicht tragen, doch er paddelte so kraftvoll, halb aufgerichtet im Kanu, dass sie schließlich auf dem feuchten Kies eines steinigen Strandes tief im Innern der Höhle landeten. Es kam fast einem Zaubertrick gleich. Nicht einmal Hiro und Konsorten, dachte Alma, hätten ein solches Manöver riskiert.
»Aussteigen, bitte«, befahl er, und obwohl er die Stimme kaum erhob, begriff sie doch, dass sie sich beeilen musste, ehe die nächste Welle hereinbrach. Sie sprang aus dem Kanu und eilte zum höchsten Punkt – der ihr im Grunde längst nicht hoch genug erschien. Eine einzige hohe Welle, und sie würden davongespült. Doch Tomorrow Morning wirkte nicht weiter beunruhigt. Er zog das Kanu hinter sich her ans Ufer.
»Darf ich Sie bitten, mir zur Hand zu gehen?«, fragte er höflich. Er deutete auf einen Felsvorsprung direkt über ihnen, und Alma begriff, dass er dort das Kanu verstauen wollte, damit ihm nichts geschah. Sie half ihm, es hochzustemmen, und gemeinsam schoben sie es auf den Vorsprung, wo die hereinbrandenden Wellen ihm nichts anhaben konnten.
Dann setzte sie sich, und er setzte sich etwas
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