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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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darüber hinweg, als wäre es ein Leichtes.
    »Doch das ist noch nicht alles«, sagte er. »Die alte Denkart wusste von Mittlerwesen – Botschaftern zwischen Menschen und Göttern.«
    »So wie Priester?«, fragte Alma.
    »Wie Reverend Welles, meinen Sie?« Tomorrow Morning lächelte, den Blick erneut zum Höhleneingang gerichtet. »Nein. Mein Vater ist ein wunderbarer Mann, doch er ist keines jener Wesen, die ich meine. Er ist kein göttlicher Bote. Ich denke an etwas anderes als einen Priester. Man könnte vielleicht sagen … wie lautet das Wort? Ein Abgesandter . Einst, in der alten Denkart, glaubten wir, dass jeder Gott seinen eigenen Abgesandten besitzt. Wenn Not herrschte, flehten die Tahitianer diese Abgesandten um Hilfe an. ›Komm her zu uns in die Welt‹, beteten sie. ›Komm ins Licht und hilf uns, denn es herrscht Krieg und Hungersnot und Angst, und wir leiden.‹ Die Abgesandten gehörten weder dieser Welt an noch dem Jenseits, doch sie wechselten zwischen beiden hin und her.«
    »Und so sehen Sie sich selbst?«, fragte Alma.
    »Nein«, antwortete er. »So sah ich Ambrose Pike.«
    Er wandte sich ihr zu, kaum dass er es ausgesprochen hatte, und seine Miene war einen Augenblick lang von tiefem Schmerz erfüllt. Es presste ihr das Herz zusammen, und sie musste sich sehr bemühen, die Fassung zu bewahren.
    »Haben Sie ihn auch so gesehen?«, fragte er und suchte nach der Antwort in ihrem Gesicht.
    »Ja«, sagte sie. Da waren sie also endlich. Da waren sie endlich bei Ambrose angelangt.
    Tomorrow Morning nickte sichtlich erleichtert. »Wissen Sie, er konnte meine Gedanken hören«, sagte er.
    »Ja«, sagte Alma. »Das konnte er wahrhaftig.«
    »Er wollte, dass auch ich seinen Gedanken lausche«, fuhr Tomorrow Morning fort, »doch ich besitze diese Fähigkeit nicht.«
    »Ja«, sagte Alma. »Das verstehe ich. Auch ich besitze sie nicht.«
    »Er konnte das Böse sehen – wie es sich zu einem Knäuel zusammenballt. So hat er mir das Böse beschrieben, als ein Knäuel von scheußlicher Farbe. Er sah das Verderben. Aber er sah auch das Gute. Manche Menschen seien von Schwaden des Guten umgeben.«
    »Ich weiß«, sagte Alma.
    »Er hörte die Stimmen der Toten. Er hat meinen Bruder gehört, Alma.«
    »Ja.«
    »Er hat mir erzählt, dass er einmal des Nachts das Licht der Sterne gehört habe – aber nur in dieser einen Nacht. Es betrübte ihn, dass er es nie wieder würde hören können. Er glaubte, wenn er mit mir gemeinsam versuchte, es zu hören, wenn wir unsere Gedanken gemeinsam darauf richteten, dann könnten wir eine Botschaft erhalten.«
    »Ja.«
    »Er war einsam hier auf Erden, Alma, denn keiner war so wie er. Er fand keine Heimat.«
    Wieder spürte Alma, wie es ihr das Herz zusammenpresste – wie Scham und Schuld und Reue darauf lasteten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie gegen die Augen. Sie zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Als sie die Fäuste wieder senkte und die Augen öffnete, sah sie, dass Tomorrow Morning sie beobachtete, als wartete er auf ein Zeichen, als fragte er sich, ob er wohl aufhören sollte zu erzählen. Dabei wollte sie doch nur, dass er weitersprach.
    »Was hat er sich von Ihnen gewünscht?«, fragte sie.
    »Er wollte einen Gefährten«, sagte Tomorrow Morning. »Er wollte ein Gegenstück. Er wollte, dass wir einander gleich sind. Wissen Sie, er hat sich in mir getäuscht. Er hielt mich für besser, als ich bin.«
    »Er hat sich auch in mir getäuscht«, sagte Alma.
    »Dann begreifen Sie es ja.«
    »Und was wünschten Sie sich von ihm?«
    »Ich wollte ihn körperlich besitzen, Alma«, sagte Tomorrow Morning mit grimmiger Stimme, doch ohne eine Miene zu verziehen.
    »Das wollte ich auch«, sagte sie.
    »Dann sind wir einander also gleich«, sagte Tomorrow Morning, doch der Gedanke schien ihm keinen Trost zu spenden. Er spendete auch Alma keinen Trost.
    »Haben Sie ihn körperlich besessen?«, fragte sie.
    Tomorrow Morning seufzte. »Ich hielt ihn in dem Glauben, ich sei so arglos wie er. Mir scheint, er sah in mir etwas wie den ersten Menschen, eine Art neuen Adam, und ich ließ zu, dass er das von mir glaubte. Ich ließ zu, dass er jene Zeichnungen von mir machte – mehr noch, ich ermunterte ihn dazu, denn ich bin eitel. Ich sagte ihm, er solle mich zeichnen, so wie er eine Orchidee zeichnet, in schuldloser Nacktheit. Denn was unterscheidet vor Gottes Angesicht einen nackten Menschen von einer Blume? Das habe ich zu ihm gesagt. So habe ich ihn zu mir

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