Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
außer Atem neben sie.
»Haben Sie es bequem?«, fragte er nach einer Weile.
»Ja«, antwortete Alma.
»Nun müssen wir warten. Sobald die Flut ganz zurückgegangen ist, werden Sie sehen, dass darunter ein schmaler Pfad zum Vorschein kommt, auf dem wir den Fels entlanggehen können und dann weiter hinauf, bis zu einem Plateau. Von dort aus kann ich Sie zu dem Ort führen, den ich Ihnen zeigen möchte. Natürlich nur, wenn Sie es sich zutrauen.«
»Ich traue es mir zu«, sagte sie.
»Gut. Für den Moment wollen wir ein wenig ausruhen.« Er legte sich seine Jacke unter den Kopf, streckte die Beine aus und richtete sich behaglich ein. Wann immer eine Welle hereinschwappte, drang sie fast bis zu seinen Füßen vor – aber nur fast. Anscheinend wusste er genau, wie es um die Gezeiten in dieser Höhle bestellt war. Alma fand das höchst bemerkenswert. Und als sie Tomorrow Morning so gelöst dort liegen sah, überfiel sie plötzlich die Erinnerung daran, wie sich Ambrose zu jeder Zeit auf jeder sich bietenden Liegefläche ausgestreckt hatte: auf dem Gras, auf einem Diwan, auf dem Boden des Salons von White Acre.
Sie ließ Tomorrow Morning etwa zehn Minuten ruhen, dann konnte sie sich nicht länger beherrschen.
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«, fragte sie.
Die Höhle war nicht eben ein ruhiger Ort für eine Unterhaltung, unablässig schwappte Wasser gegen die Felsen und erzeugte alle möglichen Formen plätschernden Widerhalls. Und doch sorgte dieses stete Murmeln und Rauschen dafür, dass es auf Erden keinen sichereren Platz zu geben schien, an dem Alma Fragen stellen konnte und Geheimnisse sich auftun würden. Wer sollte sie hier belauschen? Wer sollte sie hier sehen? Niemand, allenfalls die Geister. Die Flut würde ihre Worte aus der Höhle hinaus aufs Meer tragen, wo sie von der tosenden Brandung zerfetzt und von den Fischen gefressen werden würden.
Tomorrow Morning antwortete, ohne sich aufzurichten. »Als ich im August 1850 nach Tahiti zurückgekehrt bin, um Reverend Welles zu besuchen, war Ambrose plötzlich da – so, wie nun Sie da sind.«
»Was hielten Sie von ihm?«
»Ich hielt ihn für einen Engel«, antwortete er, ohne eine Sekunde zu zögern und ohne die Augen zu öffnen.
Alma fand, er habe ihre Fragen fast ein wenig zu schnell beantwortet. Sie wollte keine vorgefertigten Erwiderungen; sie wollte die ganze Geschichte. Sie wollte nicht nur die Schlussfolgerungen; sie wollte das Dazwischen. Sie wollte Tomorrow Morning und Ambrose vor sich sehen, wie sie einander begegneten. Sie wollte ihre Gespräche belauschen. Sie wollte wissen, was sie gedacht, was sie empfunden hatten. Und vor allem wollte sie wissen, was sie getan hatten. Sie wartete, doch er wurde nicht mitteilsamer. Nachdem sie eine ganze Zeit geschwiegen hatten, berührte Alma Tomorrow Morning am Arm. Er schlug die Augen auf.
»Bitte«, sagte sie. »Fahren Sie fort.«
Er setzte sich auf und wandte sich ihr zu. »Hat der Reverend Ihnen je erzählt, wie ich in die Mission gekommen bin?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie.
»Ich war erst sieben Jahre alt«, erzählte er. »Vielleicht auch acht. Erst starb mein Vater, dann starb meine Mutter und dann meine beiden Brüder. Eine der anderen Frauen meines Vaters nahm mich zu sich, doch dann starb auch sie. Es gab noch eine andere Mutter – eine weitere Frau meines Vaters –, doch auch sie starb bald darauf. Die Kinder der anderen Frauen meines Vaters starben kurz nacheinander. Es gab auch Großmütter, doch sie starben ebenfalls.« Er schwieg, sann kurz über etwas nach und fuhr fort: »Nein, ich bringe die Reihenfolge der Todesfälle durcheinander, Alma, verzeihen Sie mir. Zunächst sind die Großmütter gestorben, die schwächsten Mitglieder der Familie. Es war also so, dass meine Großmütter zuallererst starben und dann mein Vater und immer so weiter, wie ich gesagt habe. Auch ich war eine Zeitlang krank, doch wie Sie sehen, bin ich nicht gestorben. Geschichten wie diese sind auf Tahiti ganz alltäglich. Sie haben sicherlich schon etliche davon gehört?«
Alma wusste nicht recht, was sie sagen sollte, und so schwieg sie. Die verheerenden Todesfälle, die ganz Polynesien in den vergangenen fünfzig Jahren heimgesucht hatten, waren ihr zwar bekannt, doch bisher hatte ihr niemand seine eigene Geschichte erzählt.
»Sie haben doch sicher die Narben an Schwester Manus Stirn bemerkt?«, fragte er. »Hat Ihnen jemand erklärt, woher sie stammen?«
Alma schüttelte den Kopf. Sie wusste
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