Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
nicht nach meiner Mutter verlangte, doch offenbar vermisste ich meinen Bruder damals mehr. Vielleicht, weil er mich stets beschützte. Ich hatte meinen Bruder immer sehr bewundert, weil er so viel mutiger war als ich. Es wird Sie nicht erstaunen, Alma, dass mein Zauberversuch keine Wirkung zeigte. Doch als Reverend Welles sah, was ich tat, setzte er sich zu mir und sprach mit mir, und damit nahm meine Schulbildung ihren Anfang.«
»Was hat er Ihnen beigebracht?«, wollte Alma wissen.
»Zunächst das Erbarmen Christi. Anschließend Englisch. Und zuletzt das Lesen.« Er schwieg lange, ehe er weitersprach. »Ich war ein guter Schüler. Wie ich höre, waren auch Sie eine gute Schülerin?«
»Ja, immer schon«, sagte Alma.
»Die geistige Betätigung fiel mir leicht, so wie sie, glaube ich, auch Ihnen leichtfiel?«
»Ja«, sagte Alma. Was hatte Ambrose ihm noch erzählt?
»Reverend Welles wurde mein Vater, und seither war ich stets der Liebling meines Vaters. Ich wage zu behaupten, dass er mich sogar mehr liebt als seine leibliche Tochter und seine Frau. Und er liebt mich sicherlich mehr als seine anderen angenommenen Söhne. Nach allem, was Ambrose mir erzählt hat, weiß ich, dass auch Sie der Liebling Ihres Vaters waren – dass Henry Sie womöglich mehr geliebt hat als seine Frau?«
Alma erschrak. Das war eine verstörende Behauptung. Sie sah sich nicht in der Lage, darauf zu antworten. Wie treu musste sie sich ihrer Mutter und auch Prudence über die Jahre und die Entfernung – ja, selbst über die Grenzen zum Jenseits hinweg – noch verbunden fühlen, dass es ihr unmöglich war, auf diese Frage aufrichtig zu antworten?
»Aber wir spüren doch, wenn wir der Liebling unseres Vaters sind, nicht wahr, Alma?«, bohrte Tomorrow Morning sanft weiter. »Es verleiht uns eine ganz besondere Kraft, finden Sie nicht? Wenn der wichtigste Mensch unserer Welt beschließt, uns allen anderen vorzuziehen, dann gewöhnen wir uns daran, alles zu bekommen, was wir haben möchten. War es für Sie nicht auch so? Wie könnten wir je daran zweifeln, stark zu sein – Menschen wie Sie und ich?«
Alma erforschte ihr Inneres, um zu ergründen, ob das wirklich stimmte.
Aber natürlich stimmte es.
Ihr Vater hatte ihr alles hinterlassen – sein gesamtes Vermögen, unter Ausschluss jedes anderen Menschen auf dieser Welt. Er hatte ihr nicht gestattet, White Acre jemals zu verlassen – nicht nur, weil er sie brauchte, sondern auch, das wurde ihr mit einem Mal klar, weil er sie liebte. Sie erinnerte sich, wie er sie als kleines Kind auf seinen Schoß gesetzt und ihr die wunderbarsten Geschichten erzählt hatte. Sie dachte daran, wie ihr Vater gesagt hatte: »Für mein Gefühl ist die Unscheinbare zehn Mal mehr wert als die Hübsche.« Sie dachte an die Ballnacht auf White Acre im Jahre1808 , als der italienische Astronom die ganze Festgesellschaft zu einem tableau vivant des Kosmos arrangiert und mit ihnen ein prachtvolles Himmelsballett aufgeführt hatte. Ihr Vater – die Sonne, das Zentrum des Ganzen – hatte quer durchs Universum gerufen: »Geben Sie dem Mädchen einen Platz!«, und Alma zum Umherrennen ermuntert. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam ihr der Gedanke, dass es Henry gewesen sein musste, der ihr die Fackel in die Hand gedrückt, ihr das Feuer anvertraut und sie als prometheischen Kometen auf die Wiese und in die große, weite Welt hinaus entsandt hatte. Niemand sonst hätte über die Macht verfügt, einem Kind offenes Feuer zu überlassen. Niemand sonst hätte Alma das Recht auf einen Platz zugestanden.
Tomorrow Morning sprach weiter. »Mein Vater hat mich immer als eine Art Propheten betrachtet.«
»Betrachten Sie sich auch selbst als solchen?«, fragte Alma.
»Nein«, antwortete er. »Ich weiß, was ich bin. Zum einen bin ich ein rauti . Ich bin ein Brandredner, so wie mein Großvater. Ich gehe zu den Menschen und singe ihnen Mut zu. Mein Volk hat großes Leid erfahren, und ich treibe es an, wieder stark zu werden – doch nun im Namen Jehovahs, denn dieser neue Gott ist weit mächtiger als unsere alten Götter. Wenn dem nicht so wäre, Alma, dann wäre mein ganzes Volk noch am Leben. So diene ich ihm: mit meiner Macht. Ich glaube daran, dass die Nachricht vom Schöpfer und von Jesus Christus auf diesen Inseln nicht mit Milde und Überzeugungskraft verbreitet werden kann, sondern nur durch Macht. Deswegen habe ich Erfolg, wo andere scheitern.«
Dies tat er Alma ganz beiläufig kund. Er ging fast achselzuckend
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