Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
schweigend.
»Dann …«, sagte sie schließlich.
»Durchaus«, gab er zurück.
Sie schwiegen eine weitere kleine Ewigkeit.
Schließlich sagte Alma: »Auch ich weiß, wer Sie sind.«
»Tatsächlich?« Er wirkte nicht weiter beunruhigt. »Wer bin ich denn?«
Doch nun, zu einer Erwiderung gedrängt, merkte Alma, dass diese Frage keineswegs leicht zu beantworten war. Um überhaupt etwas zu sagen, entgegnete sie: »Sie haben meinen Mann gut gekannt.«
»So ist es. Mehr noch, er fehlt mir.«
Seine Antwort erschreckte Alma, doch sie zog dieses Erschrecken einer Auseinandersetzung oder gar einer Ausflucht bei weitem vor. In den Tagen zuvor, als sie sich den Verlauf dieses Gesprächs ausmalte, da hatte sie geglaubt, daran irre werden zu müssen, sollte er sie gemeiner Lügen bezichtigen oder behaupten, Ambrose nie begegnet zu sein. Doch offenbar hatte er nicht vor, sich lange zu zieren oder etwas zu leugnen. Sie musterte ihn genauer, suchte nach etwas anderem als ruhiger Selbstgewissheit in seiner Miene, doch sie konnte nichts Auffälliges finden.
»Sie vermissen ihn«, wiederholte sie.
»Und ich werde ihn auf ewig vermissen, denn Ambrose Pike war der Beste unter den Menschen.«
»Das sagen alle«, brummte Alma. Sie fühlte sich verstimmt und ein wenig überrumpelt.
»Es ist ja auch die Wahrheit.«
»Haben Sie ihn geliebt, Tamatoa Mare?«, fragte sie und suchte erneut nach einem Riss in seiner gleichmütigen Fassade. Sie wollte ihn ebenso überrumpeln wie er sie. Doch sein Gesicht verriet kein Fünkchen Unbehagen. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie ihn bei seinem eigentlichen Namen nannte.
»Alle, die ihn kannten, haben ihn geliebt«, sagte er.
»Aber haben Sie ihn besonders geliebt?«
Tomorrow Morning schob die Hände in die Hosentaschen und blickte zum Mond empor. Er schien es mit der Antwort nicht eilig zu haben. Er wirkte in jeder Hinsicht wie ein Mann, der mit Muße auf einen Zug wartet. Nach einiger Zeit richtete er den Blick wieder auf Almas Gesicht. Ihr fiel auf, dass sie nahezu gleich groß waren. Ihre Schultern waren kaum weniger breit als die seinen.
»Ich nehme an, Sie fragen sich so manches«, sagte er anstelle einer Antwort.
Alma glaubte an Boden zu verlieren. Sie musste wohl noch direkter werden.
»Tomorrow Morning«, sagte sie. »Darf ich ganz offen zu Ihnen sein?«
»Aber bitte«, ermunterte er sie.
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen etwas über mich erzähle, das Ihnen vielleicht hilft, selbst freimütiger zu sprechen. Auch wenn ich es selbst nicht immer als Tugend oder Segen betrachte, liegt es doch in meiner Natur, dem Wesen der Dinge auf den Grund gehen zu wollen. Deswegen möchte ich auch begreifen, wer mein Mann wirklich war. Ich habe die weite Reise hierher unternommen, um ihn besser zu begreifen, doch dies hat sich als nahezu fruchtlos erwiesen. Das wenige, was ich über Ambrose in Erfahrung bringen konnte, hat mich lediglich in noch größere Verwirrung gestürzt. Unsere Ehe, das muss ich zugeben, war weder alltäglich noch allzu lang, doch das schmälert nicht die Liebe und Sorge, die ich für meinen Mann empfunden habe. Ich bin kein unschuldiges Kind, Tomorrow Morning. Man braucht mich nicht vor der Wahrheit zu schützen. Bitte glauben Sie mir, dass ich weder vorhabe, Sie anzugreifen, noch, Sie mir zum Feind zu machen. Auch Ihre Geheimnisse sind bei mir nicht in Gefahr, sollten Sie sich entschließen, sie mir anzuvertrauen. Ich habe allerdings Anlass zu glauben, dass Sie tatsächlich gewisse Geheimnisse über meinen Mann hüten. Ich habe die Zeichnungen gesehen, die er von Ihnen angefertigt hat. Und diese Zeichnungen, das werden Sie sicherlich verstehen, treiben mich dazu, Sie nach dem wahren Wesen Ihrer Verbindung zu Ambrose zu fragen. Können Sie diesen Wunsch einer Witwe respektieren und mir sagen, was Sie wissen? Meine Gefühle bedürfen keiner Schonung.«
Tomorrow Morning nickte. »Haben Sie die Zeit, den morgigen Tag mit mir zu verbringen?«, fragte er. »Vielleicht bis in den Abend hinein?«
Alma nickte.
»Wie ist es körperlich um Sie bestellt?«, fragte er.
Diese Frage in all ihrer Unangemessenheit erschütterte sie zutiefst. Er bemerkte ihr Unbehagen und setzte hinzu: »Ich wollte sagen: Sind Sie in der Lage, eine längere Wanderung zu bewältigen? Ich vermute, als Naturforscherin sind Sie gesund und gut bei Kräften, dennoch muss ich Sie danach fragen. Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen, möchte Sie jedoch nicht über die Maßen beanspruchen. Können
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