Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Tomorrow Morning es anstellte, die Richtung zu bestimmen.
»Vorsicht«, rief er über die Schulter zu ihr zurück. »C’est glissant!«
Auch er war wohl müde, denn er schien nicht einmal zu bemerken, dass er französisch mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass er die Sprache beherrschte. Was hielt er noch alles in seinem Kopf verborgen? Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Für einen Waisenjungen hatte er es weit gebracht.
Dann wurde der Hang ein wenig flacher, und sie folgten einem Flusslauf. Kurz darauf hörte Alma in der Ferne ein dumpfes Grollen. Eine Zeitlang blieb das Geräusch nur eine Ahnung, doch dann liefen sie um eine Kurve, und sie sah einen Wasserfall von vielleicht siebzig Fuß Höhe, ein breites Band aus weißem Schaum, das sich tosend in einen brodelnden See ergoss. Die Wucht des herabstürzenden Wassers erzeugte Windböen, und der Wassernebel gab dem Wind Gestalt – als würden auf einmal Geister sichtbar. Alma wäre gern dort geblieben, doch der Wasserfall war nicht Tomorrow Mornings Ziel. Er beugte sich nah zu ihr hin, damit sie ihn über das Donnern des Wassers hinweg hören konnte, deutete Richtung Himmel und rief: »Und jetzt geht es wieder aufwärts.«
Stück für Stück hangelten sie sich neben dem Wasserfall empor. Bald war Almas Kleid völlig durchnässt. Sie klammerte sich an robusten Bergwegerich und Bambusrohr, um beim Aufstieg Halt zu finden, und konnte nur beten, dass sie sie nicht mit der Wurzel herausriss. Am oberen Ende des Wasserfalls gelangten sie auf eine ebene, von hohem Gras überwucherte Fläche, auf der große Felsbrocken durcheinanderlagen. Alma kam zu dem Schluss, dass dies wohl der Ort sein musste, von dem er gesprochen hatte – ihr Ziel –, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, was daran so außergewöhnlich war. Doch dann umrundete Tomorrow Morning den größten Felsbrocken, sie folgte ihm, und sie standen ganz unerwartet vor dem Eingang einer kleinen Höhle – akkurat in den Fels geschnitten wie das Zimmer eines Hauses, dessen Wände zu beiden Seiten gut acht Fuß in die Höhe ragten. Die Höhle war kühl und still und verströmte einen mineralischen, erdigen Geruch. Und Boden und Wände waren mit einem wahren Teppich des üppigsten, dicht wucherndsten Mooses bedeckt, das Alma Whittaker jemals gesehen hatte.
Die Höhle war nicht nur moosbedeckt, sie sprühte förmlich vor Moos. Das Moos war von einem so intensiven Grün, dass die Farbe fast zu sprechen schien, als wollte sie die Grenzen der optischen Welt sprengen und in die Sphäre des Akustischen eindringen. Dieses Moos war ein dichter, lebendiger Pelz, der den steinernen Oberflächen die Gestalt von schlummernden, aus Sagen entflohenen Monstern verlieh. Und so unwahrscheinlich es auch schien, in den entlegensten Winkeln der Höhle glitzerte und funkelte es; und Alma stockte der Atem, als sie erkannte, dass die ganze Höhle wie mit Edelsteinen besetzt war: Schistotega pennata , Leuchtmoos, funkelnd und filigran.
Das Gold der Kobolde, der Drachen und Elfen – Schistotega pennata war das seltenste aller Höhlenmoose, falsche Kostbarkeiten, die wie Katzenaugen im Dämmerlicht des geologischen Dunkels glühten, ein überirdisch glitzerndes Pflänzchen, dem der kleinste Lichtschein genügt, um wie ein Glorienschein zu erstrahlen, ein genialer Schelm, dessen funkelnde Facetten im Lauf der Jahrhunderte schon so manchen Reisenden glauben machten, er sei auf einen verborgenen Schatz gestoßen. Für Alma indessen war es tatsächlich ein Schatz, überwältigender als alle echten Reichtümer, denn die ganze Höhle war erfüllt mit dem geisterhaften smaragdenen Glanz, den Alma bis dahin nur im Kleinen erblickt hatte, in einem Stückchen Moos unter dem Mikroskop … und nun stand sie mitten darin.
Vor so viel Schönheit blieb ihr nichts weiter übrig, als die Augen zu schließen. Sie ertrug es nicht. Sie hatte das Gefühl, Derartiges nicht ohne Erlaubnis sehen zu dürfen, nicht ohne eine Art göttlichen Erlass. Sie fühlte sich dessen nicht würdig. Mit geschlossenen Augen wurde sie ruhiger und erlaubte sich den Gedanken, dass sie womöglich nur geträumt hatte. Doch als sie es schließlich wagte, die Augen wieder zu öffnen, war alles immer noch da. Die Höhle war so wunderschön, dass sämtliche Knochen in Almas Körper vor Sehnsucht schmerzten. Nie hatte sie etwas so heiß begehrt wie dieses moosgewordene Schauspiel. Sie wollte sich davon verschlingen lassen. Und schon jetzt
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