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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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erkannte nun deutlicher, wie sehr Tomorrow Morning nicht nur geliebt, sondern verehrt wurde. Sie erkannte auch, welch verantwortungsvolle Stellung er bekleidete und wie meisterlich er diese Stellung ausfüllte. Die Menschen legten ihm Blumenranken um den Hals; die Blüten hingen wie schwere Ketten an ihm herab. Er wurde mit Geschenken überhäuft: ein grünes Taubenpärchen samt Käfig, eine Herde protestierender junger Schweine, ein reichverziertes holländisches Gewehr aus dem achtzehnten Jahrhundert, das nicht mehr schießtauglich war, eine in Ziegenleder gebundene Bibel, Schmuck für seine Frau, ballenweise Kattun, säckeweise Zucker und Tee, eine ansehnliche eiserne Glocke für seine Kirche. Die Menschen legten ihm ihre Geschenke zu Füßen, und er nahm sie huldvoll entgegen.
    Bei Einbruch der Dämmerung trat eine Schar Frauen mit Besen an den Strand und machte sich daran, ein Spielfeld für eine Partie haru raa puu freizufegen. Alma hatte ein solches Spiel noch nie erlebt, wusste jedoch, worum es sich handelte, denn Reverend Welles hatte ihr davon erzählt. Das Spiel – dessen Name so viel wie »Pack den Ball« bedeutete – wurde traditionell von zwei Frauenmannschaften gespielt, die einander auf einem Strandstück von gut hundert Fuß Länge gegenüberstanden. An beiden Querseiten des improvisierten Spielfelds wurde eine Linie in den Sand gezogen, die das Tor kennzeichnete. Als Ball diente eine dicke Kugel aus fest zusammengerollten Bananenblättern, die etwa den Durchmesser eines mittelgroßen Kürbis besaß, jedoch längst nicht so schwer war. Ziel des Spieles, so wusste Alma, war es, der gegnerischen Mannschaft den Ball abzujagen und damit ans entgegengesetzte Ende des Spielfelds zu gelangen, ohne dabei von einer Gegenspielerin zu Boden gerissen zu werden. Geriet der Ball ins Meer, wurde trotzdem weitergespielt, auch im Wasser. Den Spielerinnen war ausnahmslos alles erlaubt, um eine Gegnerin daran zu hindern, ein Tor zu erzielen.
    Den englischen Missionaren erschien haru raa puu als höchst undamenhaftes und aufreizendes Spiel, und folglich war es in allen anderen Missionssiedlungen verboten. Man musste den Missionaren allerdings zugutehalten, dass dieses Spiel in Wahrheit einiges mehr als bloß undamenhaft war. Während einer Partie haru raa puu zogen sich die Spielerinnen regelmäßig schwere Verletzungen zu: Knochenbrüche, Schädelfrakturen, blutende Wunden. Das Ganze war, wie Reverend Welles in bewunderndem Tonfall bekundete, »ein bemerkenswert barbarisches Schauspiel«. Doch um die Gewalttätigkeit, so hatte er Alma erklärt, ging es ja gerade. In früheren Zeiten hatten die Frauen haru raa puu gespielt, während die Männer sich für den Krieg stählten. So war auch die Damenwelt vorbereitet, falls es einmal zum Kampf kam. Doch weshalb erlaubte Reverend Welles, dass haru raa puu weiterhin gespielt wurde, während es in allen anderen Missionen als unchristlicher Ausdruck reinster Barbarei verteufelt wurde? Nun, aus demselben Grund wie sonst auch: Es konnte schließlich nicht schaden.
    Doch als das Spiel begonnen hatte, konnte Alma sich des Gedankens nicht erwehren, dass sich Reverend Welles in diesem einen Fall gründlich täuschte: Eine Partie haru raa puu konnte allerdings schaden, sogar ganz beträchtlich. Kaum war der Ball im Spiel, wurden aus den Frauen ebenso erhabene wie erschreckende Kreaturen. Diese reizenden, gastfreundlichen tahitianischen Damen – deren Körper Alma beim morgendlichen Bad entblößt gesehen, deren Mahlzeiten sie geteilt, deren Kinder sie auf den Knien geschaukelt, deren Stimmen sie im andächtigen Gebet gehört und deren Haar sie so wunderhübsch mit Blumen geschmückt gesehen hatte – verwandelten sich auf der Stelle in rivalisierende Heere aus rasenden Furien. Alma war sich nicht ganz im Klaren, ob das Ziel des Spieles tatsächlich darin bestand, den Ball zu packen, oder nicht vielleicht doch darin, die Gegnerinnen in Stücke zu reißen. Vielleicht schloss das eine das andere ja nicht aus. Sie sah, wie die reizende Schwester Etini (ausgerechnet Schwester Etini!) eine andere Frau an den Haaren zu Boden riss; dabei befand sich die Gegnerin nicht einmal in der Nähe des Balls!
    Die versammelte Menge am Strand war von dem Spektakel begeistert und johlte lautstark. Auch der Reverend johlte mit, und Alma wurde zum ersten Mal des Raubeins aus den Docks in Cornwall ansichtig, das er einst gewesen war, bis Jesus Christus und Mrs Welles ihn vor diesem streitlustigen Leben

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