Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
gefährlich, jetzt, in der Dunkelheit, noch zur Matavai-Bucht zurückzukehren. Tomorrow Morning war zwar nicht abgeneigt, sein Kanu bei Nacht zu lenken – er behauptete sogar, dies vorzuziehen, weil es dann kühler sei –, hielt es indes für zu riskant, in völliger Finsternis die Felswand neben dem Wasserfall hinabzuklettern. So gut, wie er die Insel kannte, musste er von vornherein gewusst haben, dass sie die Nacht hier verbringen würden. Alma sah ihm diese Vermessenheit nach.
Im Freien zu schlafen versprach nicht gerade, einer erholsamen Nachtruhe zuträglich zu werden, doch sie machten das Beste aus ihrer Lage. Sie bauten eine kleine Feuergrube aus billardkugelgroßen Steinen. Sie sammelten trockene Hibiskuszweige, die Tomorrow Morning innerhalb weniger Minuten zum Brennen brachte. Alma sammelte Brotfrüchte, wickelte sie in Bananenblätter und briet sie, bis sie mürbe waren und zerfielen. Sie machten sich eine Decke aus den Stängeln des Bergwegerich, die sie mit Steinen zu einem stoffartigen Gewebe weichklopften. Unter dieser Wegerichdecke schliefen sie beide, dicht aneinandergeschmiegt, um sich zu wärmen. Es war feucht, aber nicht unbehaglich. Sie zogen sich wie zwei Fuchsgeschwister in ihren Bau zurück. Am Morgen, als Alma erwachte, sah sie, dass der Saft des Wegerichs dunkelblaue Flecken auf ihrer Haut hinterlassen hatte, während auf Tomorrow Mornings Körper nichts davon zu sehen war. Seine dunkle Haut hatte die Flecken verschluckt, während die ihre sie schamlos zur Schau stellte.
Es schien nicht ratsam, über die Geschehnisse des Vortags zu sprechen. Sie schwiegen beide, nicht aus Verlegenheit, sondern vielmehr aus einer Art von Wertschätzung. Zudem waren sie erschöpft. Sie zogen sich an, verzehrten die restlichen Brotfrüchte, kletterten hinunter, suchten sich ihren Weg am Felsen entlang, erreichten die Höhle und traten die Rückreise in die Matavai-Bucht an.
Sechs Stunden später, als der vertraute schwarze Strand der Missionssiedlung in Sicht kam, wandte Alma sich zu Tomorrow Morning um und legte ihm die Hand aufs Knie. Er ließ das Paddel sinken.
»Verzeih«, sagte sie. »Darf ich dich mit einer letzten Frage belästigen?«
Es gab noch eines, was sie wissen musste, und da sie nicht sicher war, ob sie einander je wiedersehen würden, musste sie ihn jetzt danach fragen. Mit ehrerbietigem Nicken hieß er sie fortzufahren.
»Fast ein Jahr lang stand Ambroses Koffer mit den Zeichnungen von dir hier in meinem fare am Strand. Er war für jedermann zugänglich. Man hätte diese Zeichnungen auf der ganzen Insel verteilen können. Und doch hat nicht eine Menschenseele den Koffer auch nur angerührt. Warum nicht?«
»Oh, das ist nicht schwer zu beantworten«, sagte Tomorrow Morning leichthin. »Weil sie sich alle vor mir fürchten.«
Damit nahm er das Paddel wieder auf und ruderte weiter Richtung Strand. Es war bald Zeit für die Abendandacht. Sie wurden voller Herzlichkeit und Freude willkommen geheißen. Tomorrow Morning hielt eine wunderbare Predigt.
Und nicht ein Einziger wagte zu fragen, wo sie gewesen seien.
Kapitel 26
Drei Tage später verließ Tomorrow Morning Tahiti, um zu seiner Mission auf Raiatea zurückzukehren – und zu seiner Frau und seinen Kindern. Alma zog sich in diesen Tagen fast gänzlich zurück. Sie verbrachte viel Zeit in ihrem fare , nur in Gesellschaft von Roger dem Hund, und dachte über alles nach, was sie vernommen hatte. Sie fühlte sich erleichtert und zugleich bedrückt: erleichtert, weil ihre alten Fragen beantwortet waren, und bedrückt von den Antworten.
Die morgendlichen Bäder im Fluss mit Schwester Manu und den anderen Frauen ließ sie ausfallen, denn sie wollte ihnen die bläulichen Flecken nicht zeigen, die immer noch schwach auf ihrer Haut zu sehen waren. Die Messe besuchte sie zwar, blieb jedoch im Hintergrund und verhielt sich so unauffällig wie möglich. Tomorrow Morning und sie hatten keinen Augenblick mehr allein miteinander. Nach allem, was sie beobachtete, hatte er nicht einmal einen Augenblick für sich. Es kam einem Wunder gleich, dass sie überhaupt so viel Abgeschiedenheit mit ihm hatte teilen können.
Am Tag vor Tomorrow Mornings Abreise wurde ein weiteres Fest ihm zu Ehren ausgerichtet – ein exaktes Abbild der eindrucksvollen Feierlichkeiten zwei Wochen zuvor. Wieder wurde getanzt und gespeist. Wieder kamen Musiker, wieder gab es Ring- und Hahnenkämpfe. Und wieder wurden Feuergruben ausgehoben und Schweine geschlachtet. Alma
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