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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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gelockt.«
    »Aber haben Sie ihn besessen?«, fragte sie.
    »Alma«, sagte er. »Sie haben mir offenbart, was für ein Mensch Sie sind. Sie haben mir erklärt, Ihr Antrieb sei der Wunsch zu begreifen. Nun will ich Ihnen offenbaren, was für ein Mensch ich bin: Ich bin ein Eroberer. Das sage ich keineswegs mit Stolz. Es liegt einfach in meiner Natur. Vielleicht sind Sie noch nie einem Eroberer begegnet, und es fällt Ihnen schwer, das zu begreifen.«
    »Mein Vater war ein Eroberer«, sagte Alma. »Ich begreife mehr davon, als Sie glauben.«
    Tomorrow Morning nickte in Anerkennung dieser Erklärung. »Henry Whittaker. Aber ja. Da könnten Sie recht haben. Es mag also sein, dass Sie mich verstehen. Es liegt in der Natur eines Eroberers, das ist Ihnen sicherlich bekannt, zu erlangen, was immer er erlangen will.«
    Danach verstrich viel Zeit, während beide schwiegen. Alma hatte noch eine weitere Frage, brachte es jedoch kaum über sich, sie zu stellen. Doch wenn sie jetzt nicht fragte, würde sie es nie erfahren, und dann würde die Frage für den Rest ihres Lebens an ihr nagen. So nahm sie allen Mut zusammen und fragte: »Wie ist Ambrose gestorben, Tomorrow Morning?« Als er nicht gleich antwortete, setzte sie noch hinzu: »Reverend Welles hat mir berichtet, er sei einer Infektion erlegen.«
    »Er ist wohl auch einer Infektion erlegen – am Ende. Das würde Ihnen jeder Arzt bestätigen.«
    »Aber wie ist er wirklich gestorben?«
    »Es ist nicht schön, davon zu sprechen«, sagte Tomorrow Morning. »Er starb vor Gram.«
    »Was meinen Sie damit?«, beharrte Alma. »Sie müssen es mir sagen. Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen zu plaudern, und ich versichere Ihnen, dass ich alles verkraften werde, wovon ich Kenntnis erhalte. Wie genau ging das vor sich?«
    Tomorrow Morning seufzte. »Ambrose hatte sich heftig geschnitten, nur wenige Tage vor seinem Tod. Sie erinnern sich gewiss, dass ich Ihnen erzählt habe, wie sich die Frauen hier mit Haifischzähnen den Kopf aufritzen, wenn sie einen geliebten Menschen verloren haben? Aber sie sind Tahitianerinnen, Alma, und es handelt sich um einen tahitianischen Brauch. Die Frauen hier wissen, wie man einen solch grausigen Akt gefahrlos vollzieht. Sie wissen genau, wie tief sie ritzen dürfen, um ihren Schmerz auszubluten, ohne sich fatalen Schaden zuzufügen. Und hinterher versorgen sie sofort ihre Wunden. Ambrose, Gott sei’s geklagt, war in dieser Form der Selbstverletzung nicht geübt. Er war zutiefst gepeinigt. Die Welt hatte ihn enttäuscht. Ich hatte ihn enttäuscht. Und schlimmer noch, ich glaube, er war von sich selbst enttäuscht. So hielt er sich nicht zurück. Und als wir ihn schließlich in seinem fare fanden, gab es keine Rettung mehr.«
    Alma schloss die Augen und sah ihren Liebsten, ihren Ambrose – seinen guten, wunderbaren Kopf – von Blut überströmt. Auch sie hatte Ambrose enttäuscht. Er hatte nur Reinheit gewollt, und sie hatte nur nach Genuss gestrebt. Sie hatte ihn an diesen gottverlassenen Ort verbannt, und er war hier eines qualvollen Todes gestorben.
    Sie spürte Tomorrow Mornings Hand auf ihrem Arm und schlug die Augen auf.
    »Quälen Sie sich nicht«, sagte er ruhig. »Sie hätten es doch nicht verhindern können. Sie haben ihn nicht in den Tod geführt. Wenn das überhaupt jemand getan hat, dann ich.«
    Noch immer fand sie ihre Stimme nicht wieder. Dann stieg eine weitere furchtbare Frage in ihr empor, und es blieb ihr nichts weiter übrig, als sie zu stellen: »Hat er sich auch die Fingerspitzen abgeschnitten? So, wie Schwester Manu es getan hat?«
    »Nicht alle«, erwiderte Tomorrow Morning mit löblichem Zartgefühl.
    Alma schloss erneut die Augen. Seine Künstlerhände! Sie dachte – ganz gegen ihren Willen – an jenen Abend zurück, als sie sich seine Finger in den Mund gesteckt hatte, um ihn in sich aufzunehmen. Ambrose war vor Schreck zusammengefahren, er war zurückgewichen. Er war doch so zart gewesen. Wie konnte er sich selbst so grauenvoll Gewalt antun? Sie verspürte Übelkeit.
    »Ich habe diese Last zu tragen, Alma«, sagte Tomorrow Morning. »Und ich habe Kraft genug für diese Last. Erlauben Sie mir, sie zu tragen.«
    Als Alma schließlich die Sprache wiederfand, sagte sie: »Ambrose hat sich das Leben genommen. Und doch hat Reverend Welles ihm ein christliches Begräbnis angedeihen lassen.«
    Es war keine Frage, vielmehr eine verwunderte Feststellung.
    »Ambrose war ein vorbildlicher Christ«, sagte Tomorrow Morning. »Und mein

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