Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
– noch während sie mitten darin stand – vermisste sie diese Höhle bereits. Sie wusste, sie würde sie bis ans Ende ihrer Tage vermissen.
»Ambrose war überzeugt, dass es Ihnen hier gefallen würde«, sagte Tomorrow Morning.
Erst da brach sie in Schluchzen aus. Sie schluchzte so heftig, dass sie keinen Laut von sich gab – nicht einen Ton brachte sie heraus – und ihr Gesicht sich zu einer tragischen Maske verzerrte. Tief in ihrem Innern brach etwas entzwei und durchbohrte ihr Herz und Lunge. Sie sank nach vorn, gegen Tomorrow Morning, so wie ein niedergeschossener Soldat seinem Kameraden in die Arme fällt. Er hielt sie. Sie bebte wie ein rasselndes Gerippe. Das Schluchzen ließ nicht nach. Sie hielt ihn so fest umklammert, dass es einem Schwächeren wohl die Rippen gebrochen hätte. Sie wollte sich ganz durch ihn hindurchdrücken und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen – oder besser noch, von ihm aufgesogen werden, in seinen Eingeweiden verschwinden, getilgt, ausgelöscht.
In ihrem Schmerz bemerkte sie es anfangs nicht, doch schließlich nahm sie wahr, dass auch er weinte – kein lautes, markerschütterndes Schluchzen, sondern leise Tränen. Sie hielt ihn ebenso wie er sie. Und so standen sie miteinander in diesem Schrein aus Moos und weinten seinen Namen heraus.
Ambrose , klagten sie. Ambrose .
Er würde niemals wiederkehren.
Schließlich sanken sie wie gefällte Bäume zu Boden. Ihre Kleider waren durchnässt, vor Kälte und Erschöpfung klapperten ihnen die Zähne. Wortlos und ohne jedes Unbehagen zogen sie ihre nassen Kleider aus. Das war unerlässlich, sonst würden sie sich vor Kälte den Tod holen. Nun waren sie nicht nur erschöpft und durchnässt, sondern auch nackt und bloß. Sie streckten sich auf dem Moos aus und betrachteten einander. Es war keine gegenseitige Musterung. Es war auch kein Akt der Verführung. Tomorrow Morning war von schöner Gestalt – doch das war offensichtlich, es überraschte nicht, lag auf der Hand und war nicht weiter von Belang. Alma Whittaker war nicht von schöner Gestalt – auch das war offensichtlich, überraschte nicht, lag auf der Hand und war nicht weiter von Belang.
Sie griff nach seiner Hand. Sie schob sich seine Finger in den Mund, wie ein Kind. Er ließ es geschehen. Er wich nicht vor ihr zurück. Dann griff sie nach seinem Glied, das – wie das Glied eines jeden tahitianischen Jungen – in frühester Kindheit mit einem Haifischzahn beschnitten worden war. Sie musste ihn inniger berühren; schließlich war er der einzige Mensch auf Erden, der jemals Ambrose berührt hatte. Sie bat Tomorrow Morning für diese Berührung nicht um Erlaubnis; er gab ihr sein Einverständnis wortlos. Es verstand sich von selbst. Sie glitt an seinem breiten, warmen Körper hinab und nahm sein Glied in den Mund.
Es war das Einzige im Leben, was sie unbedingt hatte tun wollen. So vieles hatte sie aufgegeben und sich nicht darüber beklagt – doch konnte sie nicht wenigstens das einmal erleben? Sie brauchte keine Ehe. Sie brauchte auch keine Schönheit zu sein und von Männern begehrt zu werden. Sie brauchte nicht ständig von Freunden und Frohsinn umgeben zu sein. Sie brauchte kein Anwesen, keine Bibliothek, kein Vermögen. Es gab so vieles, was sie nicht brauchte. Sie brauchte es nicht einmal, dass nach so langer Zeit, im reizlosen Alter von dreiundfünfzig Jahren, noch das unerforschte Gelände ihrer altehrwürdigen Jungfernschaft ausgehoben wurde – obwohl sie spürte, dass Tomorrow Morning ihr die Gefälligkeit erwiesen hätte, wäre es ihr Wunsch gewesen.
Doch das hier – das brauchte sie, und sei es nur für diesen einen kurzen Moment ihres Lebens.
Tomorrow Morning zögerte weder, noch trieb er sie zur Eile an. Er erlaubte ihr, ihn zu erforschen und so viel von ihm in den Mund zu nehmen, wie ihr möglich war. Er gestattete ihr, an ihm zu saugen, als atmete sie durch ihn – als wäre sie unter Wasser und er ihre einzige Verbindung zur Luft. Die Knie im Moos, das Gesicht in ein Nest von Haaren gedrückt, spürte sie, wie er in ihrem Mund immer schwerer wurde, immer wärmer, immer willfähriger.
Es war genau so, wie sie es sich stets ausgemalt hatte. Nein, es war noch weit mehr, als sie sich ausgemalt hatte. Und schließlich ergoss er sich in ihren Mund, und sie empfing es wie eine Opfergabe, wie eine Spende.
Sie war dankbar.
Danach weinten sie nicht weiter.
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Sie verbrachten die Nacht miteinander in der hochgelegenen Moosgrotte. Es war zu
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