Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Vater, Gott schütze ihn, ist ein ganz außergewöhnlich großherziger Mensch.«
Während sie weitere Teile der Geschichte zusammensetzte, fragte Alma: »Weiß Ihr Vater, wer ich bin?«
»Davon sollten wir ausgehen«, sagte Tomorrow Morning sanft. »Mein lieber Vater weiß alles, was auf der Insel vor sich geht.«
»Und doch war er so freundlich zu mir. Er hat nie gefragt …«
»Das sollte Sie nicht überraschen, Alma. Mein Vater ist die Freundlichkeit in Person.«
Wieder schwiegen sie lange. Dann fragte Alma: »Heißt das, er weiß auch von Ihnen? Weiß er, was zwischen Ihnen und meinem verstorbenen Mann vorgefallen ist?«
»Auch davon sollten wir ausgehen.«
»Und doch ist er so voller Bewunderung …«
Alma gelang es nicht, den Gedanken zu Ende zu bringen, und auch Tomorrow Morning hielt keine weitere Antwort für nötig. So saßen sie lange da, in fassungslosem Schweigen. Den unerschöpflichen Vorräten an Mitgefühl und Vergebung in der Seele des Reverend Francis Welles wurden ganz offenbar keinerlei Logik und erst recht keine Worte gerecht.
Dann jedoch kam Alma eine weitere schreckliche Frage in den Sinn. Eine Frage, die ihr die Galle kochen ließ und sie förmlich um den Verstand brachte, und doch musste sie auch das wissen.
»Haben Sie sich Ambrose aufgezwungen?«, fragte sie. »Haben Sie ihm Gewalt angetan?«
Tomorrow Morning nahm ihr den Vorwurf nicht übel, doch er wirkte auf einmal um Jahre gealtert. »Ach, Alma«, sagte er traurig. »Offenbar wissen Sie doch nicht so genau, was einen Eroberer ausmacht. Ich brauche nichts zu erzwingen – wenn ich meine Entscheidung einmal getroffen habe, bleibt dem anderen gar keine Wahl mehr. Begreifen Sie? Habe ich Reverend Welles denn gezwungen, mich als seinen Sohn anzunehmen und mich mehr zu lieben als sein eigen Fleisch und Blut? Habe ich die Insel Raiatea gezwungen, sich zu Jehova zu bekehren? Sie sind eine kluge Frau, Alma. Versuchen Sie, das zu verstehen.«
Alma hob wieder die geballten Fäuste an die Augen. Sie würde keine Tränen bei sich dulden, doch nun kannte sie sie, die furchtbare Wahrheit: Ambrose hatte zugelassen, dass Tomorrow Morning ihn berührte, während er sich von ihr nur schaudernd abgewandt hatte. Womöglich setzte ihr diese Neuigkeit mehr zu als alles, was sie an diesem Tag sonst noch erfahren hatte. Sie schämte sich, weil sie sich über eine solche Lappalie erregte, nachdem sie so viel Schrecklicheres vernommen hatte, doch sie konnte nichts dagegen tun.
»Was bedrückt Sie?«, fragte Tomorrow Morning, als er ihre gequälte Miene sah.
»Auch ich wollte mich mit ihm vereinigen«, bekannte sie schließlich. »Aber er wollte mich nicht.«
Tomorrow Morning musterte sie mit ungeheurer Zärtlichkeit. »Darin also unterscheiden wir uns, Sie und ich«, sagte er. »Sie hatten ein Einsehen.«
•
Unterdessen war die Flut verebbt, und Tomorrow Morning sagte: »Brechen wir rasch auf, solange wir die Möglichkeit dazu haben. Wenn wir es wagen wollen, dann müssen wir es jetzt tun.«
Sie ließen das Kanu auf dem sicheren Versprung zurück und verließen die Höhle. Am Rand des Felsens entlang verlief, ganz wie Tomorrow Morning es versprochen hatte, ein schmaler Steig, auf dem sie gefahrlos gehen konnten. Nach einer längeren, geraden Strecke ging es aufwärts. Vom Kanu aus hatte das Gestein steil, kerzengerade und unerklimmbar gewirkt, doch als sie nun Tomorrow Morning folgte und ihre Hände und Füße genau dort platzierte, wo auch er es tat, erkannte Alma, dass tatsächlich ein Pfad nach oben führte. Fast war es, als wären Stufen in den Fels gehauen, als hätte man überall dort Halt für Hände und Füße angebracht, wo es nötig war. Alma sah nicht zum Meer hinunter, sondern vertraute – so wie sie auch Hiro und Konsorten zu vertrauen gelernt hatte – der Zuverlässigkeit ihres Begleiters und ihrer eigenen Trittsicherheit.
Nach etwa fünfzig Fuß erreichten sie einen Felsvorsprung. Von dort aus betraten sie einen Streifen dichten Urwalds und erklommen einen steilen Hang voll feuchter Wurzeln und Ranken. Nach den wochenlangen Ausflügen mit Hiro und Konsorten war Alma in bester Wanderverfassung und verfügte über den Mut eines Highland-Ponys, doch dieser Aufstieg war eine wahrhaft tückische Angelegenheit. Das nasse Laub unter den Füßen ließ sie gefährlich ausgleiten, und selbst barfuß war es oft schwierig, Halt zu finden. Sie wurde müde. Von einem Pfad war weit und breit nichts zu erkennen. Es war ihr ein Rätsel, wie
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