Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
zutiefst einsam, zum ersten Mal seit Dutzenden von Jahren.
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Darwins Tod beunruhigte Alma, die inzwischen zweiundachtzig war und zusehends gebrechlicher wurde. Er war doch erst dreiundsiebzig gewesen! Niemals hätte sie damit gerechnet, ihn zu überleben. Noch Monate nach Darwins Ableben blieb ihr diese Unruhe erhalten. Es war, als wäre mit ihm ein Stück ihrer eigenen Geschichte gestorben, und kein Mensch würde jemals davon wissen. Natürlich hatte auch vorher kein Mensch davon gewusst, doch nun war die Verbindung unwiderruflich verloren – eine Verbindung, die Alma sehr viel bedeutet hatte. Bald würde auch sie sterben, und dann war nur noch ein Bindeglied übrig: der junge Wallace, der bereits auf die sechzig zuging und so jung auch nicht mehr war. Wenn alles so weiterging wie bisher, dann würde sie sterben, ohne Wallace je kennengelernt zu haben, so wie sie Darwin nie kennengelernt hatte. Mit einem Mal schien es ihr unerträglich traurig, dass es so kommen könnte. Das durfte sie nicht zulassen.
Alma überlegte. Sie überlegte mehrere Monate lang. Und schließlich handelte sie. Sie bat Mimi, auf offiziellem Briefpapier des Hortus ein freundliches Schreiben aufzusetzen und Alfred Russel Wallace darin höflich zu ersuchen, er möge die Einladung annehmen, im Frühjahr 1883 einen Vortrag über das Thema der natürlichen Selektion im Hortus Botanicus zu Amsterdam zu halten. Ein Honorar von neunhundert Pfund Sterling werde ihm für seine Zeit und Mühen zugesichert, und der Hortus werde selbstverständlich auch alle anfallenden Reisekosten tragen. Mimi protestierte gegen das Honorar: Für manche Menschen seien das immerhin mehrere Jahresgehälter! Doch Alma erwiderte ungerührt: »Ich werde für alles persönlich aufkommen, Mr Wallace braucht das Geld nun einmal.«
Ferner setzte der Brief Mr Wallace davon in Kenntnis, dass er herzlichst geladen sei, in der behaglichen Familienresidenz der van Devenders zu logieren, die sich günstigerweise in unmittelbarer Nachbarschaft des Hortus befinde, im hübschesten Stadtteil von Amsterdam. Er werde dort etliche junge Botaniker antreffen, die dem berühmten Biologen mit Freuden sämtliche Sehenswürdigkeiten des Hortus und der umgebenden Stadt zeigen würden. Es wäre eine große Ehre für den Hortus, einen so verdienstvollen Gast bei sich begrüßen zu dürfen. Alma unterschrieb den Brief: »Hochachtungsvoll, Miss Alma Whittaker – Moos-Kuratorin«.
Die Antwort kam postwendend von Wallace’ Frau Annie (die, wie Alma bereits mit Begeisterung festgestellt hatte, eine Tochter des großen William Mitten war, eines Pharmazeuten und erstklassigen Bryologen). Mrs Wallace schrieb, ihr Mann sei hocherfreut, nach Amsterdam zu kommen. Er werde am 19. März 1883 eintreffen und zwei Wochen bleiben. Das Ehepaar Wallace war voller Dankbarkeit für die Einladung und pries das Honorar als überaus großzügig. Dem Brief war zu entnehmen, dass das Angebot gerade zur rechten Zeit gekommen war – wie auch das Geld.
Kapitel 31
Wie groß er war!
Damit hatte Alma nicht gerechnet. Alfred Russel Wallace war ebenso groß und schlaksig, wie Ambrose es gewesen war. Auch war er fast so alt, wie Ambrose inzwischen gewesen wäre, hätte er noch unter den Lebenden geweilt: sechzig Jahre und kerngesund, wenn auch ein wenig gebeugt. (Immerhin handelte es sich um einen Mann, der ganz offensichtlich zu viele Jahre über Mikroskopen und Präparaten verbracht hatte.) Er hatte graues Haar und einen üppigen Bart, und Alma musste sich sehr beherrschen, um nicht die Hand auszustrecken und sein Gesicht mit den Fingern zu betasten. Sie sah wirklich nicht mehr allzu gut und wollte seine Züge besser kennenlernen. Doch weil es unverschämt und anstößig gewesen wäre, hielt sie sich zurück. Trotzdem hatte sie, kaum dass sie seiner ansichtig wurde, das Gefühl, den ältesten Freund zu begrüßen, den sie auf Erden besaß.
Zu Beginn seines Aufenthalts herrschte indessen eine solche Betriebsamkeit, dass Alma fast ein wenig im Getümmel verlorenging. Sie war zwar eine stattliche Frau, doch sie war bereits betagt, und betagte Frauen geraten bei größeren Gesellschaften nicht selten ins Abseits – selbst wenn sie die Geldgeberinnen besagter Gesellschaften sind. Zu viele wollten den großen Evolutionsbiologen kennenlernen, und Almas junge Verwandte, allesamt eifrige Jünger der Wissenschaft, beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit und umschwärmten ihn wie hoffnungsvolle Kavaliere und Ballschönheiten.
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