Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Hortus Botanicus ihr einen Monat Urlaub, um in ganz Europa Moose zu sammeln. Sie lernte die Alpen kennen und lieben, indem sie, mit Stock und Sammelausrüstung bewaffnet, ihre majestätischen Höhen durchwanderte. Sie erkundete auch die farnfeuchten Wälder Deutschlands.
Kurzum, sie war eine hochzufriedene alte Dame geworden.
Die siebziger Jahre brachen an. Im friedlichen Amsterdam begann Alma das achte Jahrzehnt ihres Lebens, widmete sich jedoch weiter hingebungsvoll ihrer Arbeit. Das Wandern fiel ihr inzwischen schwer, doch sie pflegte nach wie vor ihre Mooshöhle und hielt im Hortus gelegentlich Vorträge zur Bryologie. Ihre Augen ließen nach, und sie fürchtete, bald nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Moospflanzen voneinander zu unterscheiden. Um sich für diese traurige Zwangsläufigkeit zu rüsten, übte sie sich darin, im Dunkeln mit ihren Moosen zu arbeiten und sie durch Betasten zu unterscheiden. Darin entwickelte sie einiges Geschick. (Sie hatte nicht das Bedürfnis, ihr Leben lang Moose zu sehen, doch sie wollte sie erkennen können.) Zum Glück hatte sie bei ihrer Arbeit inzwischen fähige Unterstützung gefunden. Margaret – liebevoll Mimi genannt –, ihr Liebling unter den jüngeren Verwandten, zeigte sich schon früh von Moosen fasziniert, und Alma nahm sie unter ihre Fittiche. Nachdem die junge Frau ihre Ausbildung beendet hatte, trat sie eine Stelle im Hortus an, als Almas Assistentin. Mit Mimis Hilfe gelang es Alma, ihr umfassendes, zweibändiges Werk Heimische Moosgewächse Nordeuropas fertigzustellen, das einigen Anklang fand. Die Bände waren hübsch illustriert, wenn auch der Künstler kein Ambrose Pike war.
Doch wer war schon ein Ambrose Pike? Keiner konnte das je von sich behaupten.
Alma sah zu, wie Charles Darwin immer mehr zum großen Mann der Wissenschaft wurde. Sie missgönnte ihm seinen Erfolg keineswegs: Er hatte alles Lob verdient und bewahrte sich eine würdevolle Haltung dabei. Es freute sie, dass er sich weiterhin seinen Forschungen zur Evolution widmete, mit der ihm eigenen Kombination aus Brillanz und Bescheidenheit. 1871 veröffentlichte er sein umfängliches Werk Die Abstammung des Menschen , in dem er die Prinzipien der natürlichen Selektion schließlich doch noch auf die Menschheit übertrug. Alma fand es klug von ihm, so lange damit gewartet zu haben. Inzwischen war das abschließende Ergebnis, zu dem das Buch kam – Ja, wir sind alle Affen! –, fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden. In den zwölf Jahren seit Erscheinen der Entstehung der Arten hatte die Welt sich die »Affenfrage« längst gestellt und sie hinreichend erörtert. Positionen waren bezogen, Abhandlungen geschrieben, Argumente und Widerlegungen in endloser Fülle vorgelegt worden. Fast schien es, als hätte Darwin der Welt Gelegenheit geben wollen, sich mit dem verstörenden Gedanken, Gott könnte den Menschen doch nicht aus Staub erschaffen haben, schon einmal zu befreunden, um sie erst dann mit seinem besonnenen, wohldurchdachten Urteil zu dem Thema zu konfrontieren. Auch dieses Buch las Alma aufmerksamer als jeder andere und war voll der Bewunderung.
Für das Problem Prudence sah sie jedoch immer noch keine Lösung.
Sie erzählte niemandem von ihrer eigenen Evolutionstheorie – und auch nicht von ihren zarten, dürftigen Banden zu Darwin. Viel mehr interessierte sie sich für ihren schemenhaften Bruder, Alfred Russel Wallace. Auch seine Karriere hatte sie über die Jahre hinweg aufmerksam verfolgt, hatte sich mit ihm an seinen Erfolgen gefreut und seine Misserfolge bedauert. Anfangs sah es so aus, als würde Wallace auf ewig eine Randbemerkung zu Darwin bleiben – vielleicht sogar dessen Handlanger, denn er hatte einen Großteil der sechziger Jahre damit zugebracht, in seinen Schriften die natürliche Selektion und damit auch Darwin zu verteidigen. Doch dann ging ein merkwürdiger Umschwung mit Wallace vor. Etwa um die Mitte des Jahrzehnts entdeckte er den Spiritismus, die Hypnose und den Mesmerismus und machte sich daran, ein Gebiet zu erforschen, das respektablere Personen als »Okkultismus« bezeichneten. Alma konnte förmlich hören, wie Charles Darwin jenseits des Ärmelkanals über diese Entwicklung aufstöhnte – waren die Namen beider Männer doch auf ewig miteinander verknüpft und Wallace einer besonders übel beleumundeten und unwissenschaftlichen Grille verfallen. Dass er Séancen besuchte, sich aus der Hand lesen ließ und Stein und Bein schwor, er habe mit den Toten
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