Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Recht an der ganzen Idee zu verlieren, falls Wallace sie als Erster veröffentlichte. Für Alma lag eine besondere Ironie darin, dass Darwin anscheinend fürchtete, in der Frage der Konkurrenz von der Konkurrenz übertrumpft zu werden! Als höflicher Gentleman entschied er, dass Wallace’ Brief ebenfalls am 1. Juli 1858 in der Linné-Gesellschaft präsentiert werden sollte, zusammen mit seinen eigenen Forschungen zur natürlichen Selektion, legte aber zugleich die nötigen Beweise dafür vor, dass er die älteren Rechte an der Hypothese besaß. Seine Entstehung der Arten erschien bald darauf, keine anderthalb Jahre später. Die eilige Publikation legte nahe, dass Darwin in Panik geraten war – vollkommen zu Recht, wie Alma befand! Wallace war ihm schließlich dicht auf den Fersen! So wie es vielen Tieren und Pflanzen ergeht, wenn sie vom Aussterben bedroht sind, so war auch Charles Darwin zur Bewegung, zum Handeln – kurzum zur Anpassung gezwungen. Alma dachte daran, wie sie es in ihrer eigenen Version der Theorie formuliert hatte: »Je größer die Krise, umso rascher, so scheint es, die Entwicklung.«
Angesichts dieser außerordentlichen Geschichte gab es für Alma keinen Zweifel mehr: Darwin war als Erster auf die Idee der natürlichen Selektion gekommen. Doch er war nicht als Einziger darauf gekommen. Da war natürlich Alma, doch es hatte auch noch jemand weiteres gegeben. Alma war fassungslos ob dieser Erkenntnis. Sie erschien ihr wie eine vollständige intellektuelle Unmöglichkeit. Zugleich aber empfand sie es als seltsam tröstlich, dass es diesen Alfred Russel Wallace gab. Sie wärmte sich an dem Wissen, nicht allein zu sein. Sie hatte einen Gleichgesinnten. Sie waren Whittaker und Wallace: Gefährten in der Anonymität – wobei Wallace natürlich nichts davon ahnte, dass er eine solche Gefährtin besaß, schließlich war sie ja noch um einiges anonymer als er. Doch Alma wusste es. Sie spürte ihn dort draußen – diesen wundersamen jüngeren Bruder im Geiste. Wäre sie gläubiger gewesen, sie hätte Gott für Alfred Russel Wallace gedankt, denn dieses leise Verwandtschaftsgefühl half ihr, den lautstarken Aufstand rund um Mr Charles Darwin und seine epochale, umwälzende, weltverändernde Theorie sicher und mit Anstand, ohne Groll, Verzweiflung oder Scham zu überstehen.
Darwin mochte Geschichte schreiben, doch Alma hatte Wallace.
Für den Moment war ihr das Trost genug.
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Die sechziger Jahre verstrichen. In Holland blieb alles ruhig, während in Amerika ein beispielloser Krieg tobte. Die wissenschaftlichen Dispute verloren in jenen fürchterlichen Jahren, in denen die Nachrichten von grauenhaften Gemetzeln aus der Heimat nicht abrissen, für Alma an Bedeutung. Prudence verlor ihren ältesten Sohn, einen Offizier, in der Schlacht am Antietam. Zwei ihrer jugendlichen Enkel starben an Lagerseuchen, noch ehe sie einen Fuß auf das Schlachtfeld setzten. Ihr Leben lang hatte Prudence dafür gekämpft, der Sklaverei ein Ende zu bereiten; nun war sie bezwungen, doch drei der Ihren waren im Kampf gefallen. »Ich jubele, und dann trauere ich wieder«, schrieb sie an Alma. »Und danach trauere ich weiter.« Alma erwog erneut, nach Hause zurückzukehren, bot es sogar an, doch die Schwester riet ihr, in Holland zu bleiben. »Unser Land ist zu geschunden für einen Besuch«, berichtete sie. »Bleibe dort, wo das Leben ruhiger ist, und freue dich an dieser Ruhe.«
Auf irgendeine Weise war es Prudence gelungen, ihre Schule den ganzen Krieg hindurch geöffnet zu halten. Sie hatte nicht nur ausgeharrt, sondern sogar weitere Kinder aufgenommen, solange die Kämpfe andauerten. Der Krieg ging zu Ende. Der Präsident wurde ermordet. Das Bündnis hielt. Die transkontinentale Eisenbahnstrecke wurde fertiggestellt. Alma hoffte, dass das Schienennetz der mächtigen Eisenbahn mit seinen groben stählernen Nähten nun die Vereinigten Staaten zusammenhalten würde. Amerika erschien in jenen Tagen, aus Almas sicherer Distanz, wie ein Ort unkontrollierbaren, blindwütigen Wachstums. Sie war froh, nicht dort zu sein. Zwischen ihr und Amerika lag ein ganzes Leben – sie glaubte nicht, dass sie das Land noch wiedererkennen würde, ebenso wenig wie das Land sie. Sie genoss ihr Leben als Holländerin, als Gelehrte, als van Devender. Sie las sämtliche wissenschaftlichen Zeitschriften und veröffentlichte selbst in vielen davon. Sie führte lebhafte Debatten mit ihren Kollegen bei Kaffee und Kuchen. Jeden Sommer gewährte der
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