Das Wesen. Psychothriller
darüber nachdenke – und ich denke sehr oft daran –, bin ich mir sicher, es waren nicht mehr als 5.
Der Schuss klang wie ein Donnerschlag, und gemessen daran hatten die Lieder und Gedichte doch recht, wenn sie die Stille des Waldes priesen. Der spitze Schrei, der direkt darauf folgte, war so kurz, dass ich nicht in der Lage war zu beurteilen, ob er von einer Frau oder einem Kind ausgestoßen worden war. Ich konnte nicht einmal gänzlich ausschließen, dass vielleicht sogar Menkhoff selbst geschrien hatte.
Einem Reflex folgend wollte ich meine Waffe ziehen, mit einem Satz aufspringen und diese Hütte stürmen, von der ich nur wusste, dass mein Partner sich darin aufhielt und offensichtlich noch mindestens eine weitere Person.
Ich zog zwar meine Pistole, blieb aber hinter dem Gebüsch in Deckung. Menkhoffs Worte standen wie ein Fanal vor mir:
Auf gar keinen Fall, egal was passiert.
Er hatte – hoffentlich – seinen Grund für diese Anweisung gehabt. Trotzdem machte es mich verrückt, mich tatenlos hinter einem Busch verstecken zu müssen, während dort drinnen etwas vorging, von dem ich nicht wusste, was es für meinen Partner bedeutete. Und was war mit Luisa? Hatte sie diesen Schrei ausgestoßen? Sollte Nicole sie etwa … Mein Körper ruckte, wollte aufspringen, und ich musste meine ganze Willenskraft aufwenden, um auf dem Boden kniend dort zu bleiben, wo ich war. Mein Unterbewusstsein schien die Kontrolle übernehmen zu wollen, weil es registriert hatte, dass ich etwas völlig Unlogisches tat. Ein Kind war in Gefahr, und ich unternahm nichts, um ihm zu helfen. Ich spürte den Schweiß auf meiner Stirn, und als ich mit dem Handrücken darüberstrich, glänzte er anschließend nass.
Die Tür der Hütte wurde geöffnet, und meine Muskeln spannten sich aufs Äußerste. Mein Verstand brauchte einen Augenblick, das Bild zu entschlüsseln, das meine Augen ihm lieferten, doch dann erkannte ich, dass es Menkhoff war, der da herauskam, und er hatte seine Tochter auf dem Arm. Luisas Kopf lag an seiner Schulter, seine Hand drückte sie an sich. Ich konnte nicht erkennen, was mit ihr war, und wollte ihnen etwas zurufen, wollte aufspringen und zu ihnen rennen. Dann endlich bewegte sie sich, und eine Woge der Erleichterung durchzog meinen ganzen Körper. Luisa hob den Kopf und sah sich schluchzend um, während Menkhoff noch immer mit ihr vor der Hütte stand, die Hand auf ihrem Rücken, und leise auf sie einredete.
Ein trockenes Knacken rechts von mir ließ mich herumfahren. Nicht weit von der Stelle entfernt, an der Menkhoff kurz zuvor aus dem Wald getreten war, kam mit schnellen Schritten Dr. Joachim Lichner auf die Hütte zu, den Blick unentwegt auf Menkhoff und Luisa gerichtet. Wie erstarrt kniete ich hinter dem Busch und atmete so flach wie möglich.
»Herr Hauptkommissar, alles in Ordnung?«, fragte Lichner, und ich verstand ihn dabei so gut, als würde er ein Mikrophon benutzen und der Lautsprecher stände unmittelbar neben mir. »Was ist mit der Kleinen, geht es ihr gut?«
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete Menkhoff und streichelte dabei über Luisas Rücken, der immer wieder zuckte.
Lichner hatte die beiden fast erreicht und blieb etwa fünf Meter vor ihnen stehen. »Sind Sie allein hergekommen?«
Menkhoff nickte.
»Und Nicole? Hat sie … hat sie Schwierigkeiten gemacht? Ich habe einen Schuss gehört, wo ist sie?«
Menkhoff senkte den Kopf. »Nicole ist tot.«
63
24. Juli 2009, 18.49 h
Mein eigenständiges Denken war auf eine seltsame Art komplett zum Erliegen gekommen. Alle Kanäle meines Verstandes waren auf Empfang gestellt, um kein Wort, keine Geste dieser Szene zu verpassen, die sich vor meinen Augen abspielte.
»Sie ist … Oh Gott. Sind Sie sicher?« Lichner stand da mit offenem Mund und glotzte Menkhoff an, als käme er von einem fremden Planeten.
»Ja, ich bin sicher. Ich konnte nicht anders, sie hat Luisa mit einem Messer bedroht. Ich …«
Etwas Unfassbares geschah in diesem Moment. So unglaublich, dass ich erst nicht begriff, was da passierte.
Joachim Lichner lachte.
Zaghaft erst, in kleinen Schüben, dann heftiger, hemmungsloser, den Kopf dabei schüttelnd, als hätte er einen unglaublich guten Witz gehört. »Sie haben sie wirklich erschossen?«, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. »Das … das ist grandios. Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen.«
Menkhoff beugte sich ein wenig nach vorne und setzte seine Tochter vor sich auf dem Boden ab. Er
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