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Das Wesen. Psychothriller

Das Wesen. Psychothriller

Titel: Das Wesen. Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Strobel
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die zarten Lippen dunkelblau, an ihrem Hals große, dunkle Flecke …
    Das Entsetzen von damals war plötzlich wieder da, der Schmerz.
    Das Nächste, was ich sah, war Mels Gesicht, das auf beiden Seiten von ihren Haaren fast komplett verdeckt wurde, die allen physikalischen Gesetzen zum Trotz waagerecht nach vorne abstanden, als würde jede einzelne Strähne auf mich zeigen. Einige Spitzen dieser Haare kitzelten mich sogar auf der Wange. Noch während ich über diese seltsame Perspektive rätselte, richtete sich Mel lächelnd auf und sagte: »Hallo Schatz, haben sie dich entlassen?«
    Ich hob den Oberkörper ein Stück an und stützte mich mit den Ellbogen auf der Liege auf. »Nein, ich … ist es schon fünf?«
    »Es ist schon halb sechs. Seit wann bist du zu Hause?«
    Halb sechs? Ich hätte gewettet, dass ich – wenn überhaupt – eine Minute zuvor erst eingeschlafen war.
    »Seit drei.« Ich schwang die Beine von der Liege.
    Mel war schon auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, blieb aber überrascht stehen. »Wie kommt’s, dass du so früh schon Dienstschluss hast?«
    »Hab ich leider noch nicht. Wir müssen heute Abend noch einen ganzen Berg Akten durchgehen, und weil es sicher sehr spät wird, haben wir eine kleine Pause eingelegt.«
    »Na super.«
    Ich konnte die Enttäuschung deutlich in ihrer Stimme hören. Und ich konnte sie verstehen. »Es tut mir leid, aber … es gibt da ein paar schreckliche Sachen … Nicole Klement, weißt du …«
    Melanie kam zu mir zurück, setzte sich neben mich auf die Liege und legte mir die Hand in den Nacken. »Nicole Klement? Erzählst du’s mir?« Ich dachte nur einen kurzen Moment an Dinge wie Schweigepflicht, dann nickte ich. »Ja.«

42
    23. Juli 2009, 20.05 h
    Ich hatte Mel das meiste von dem erzählt, was ich erlebt und was mich bewegt hatte, nur einige Einzelheiten aus Nicoles Patientenakte hatte ich ausgelassen. Einerseits, weil ich Mel diese Scheußlichkeiten ersparen wollte, andererseits, weil ich glaubte, dass Nicole psychisch ernsthaft krank war und dass das eine Folge der dort beschriebenen, furchtbaren Kindheitserlebnisse war. Mel hatte Nicole nie persönlich kennengelernt, aber ich hatte ihr mit der Zeit fast alles über sie erzählt, was ich wusste. Nur die intimen Dinge, die Menkhoff in seltenen Momenten mit mir besprochen hatte, erwähnte ich nicht. Und einige meiner Gedanken zu dem Mord an der kleinen Juliane auch nicht.
    Menkhoff öffnete erst nach dem zweiten Klingeln mit einem kleinen, ziemlich zerzaust aussehenden Stoffbären in der Hand. »Geh rein, setz dich, ich komme gleich. Das letzte von drei Gute-Nacht-Liedern fehlt noch, und Luisa besteht auf drei. Ist ein Ritual.«
    Ich folgte ihm durch die Diele. Als er die Treppe zur ersten Etage erreicht hatte, auf der auch Luisas Zimmer lag, sagte ich: »Mir fällt auf, dass du mich in letzter Zeit häufiger mit diesen Worten empfängst:
Geh schon mal rein, ich komme gleich.
Sehr gastfreundlich ist das nicht, Herr Kollege.«
    Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Das mag daran liegen, dass mir in den letzten beiden Tagen neben der guten Laune vielleicht auch die Höflichkeit verlorengegangen ist, Alex.« Als er sich schon wieder abgewandt und den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt hatte, fügte er hinzu: »Ganz besonders seit heute Nachmittag.«
    Also gut, dachte ich mir, keinen Auflockerungsversuch mehr.
    Teresa und Bernd hatten ihr Haus mit einem Mix aus Antiquitäten und modernen Möbeln eingerichtet, und sie hatten dabei – was ich zum größeren Teil Teresa zuschrieb – Fingerspitzengefühl bewiesen. Die unterschiedlichen Möbelstücke und Accessoires ergänzten sich hervorragend, obwohl zwischen ihrer Herstellung hier und da bestimmt an die 200 Jahre lagen.
    Ich setzte mich auf die L-förmige Couch, strich mit den Handflächen über das weiche, beigefarbene Veloursmaterial und sah mich in dem Raum um. Hatte sich etwas verändert, seit Mel und ich etwa vier Wochen zuvor das letzte Mal abends zu Besuch gewesen waren? Wir sahen uns nicht oft und auch nicht regelmäßig, aber die Abende, die wir zusammen verbrachten, waren immer schön. Dieser würde es nicht werden.
    Im Bücherregal gleich schräg neben der Couch stand ein großes Foto von Teresa und Bernd. Sie umarmten sich und lachten den Fotografen herzlich an. Ich betrachtete Teresas Gesicht genauer, ihre blauen Augen mit den fächerartigen, kleinen Fältchen an den Außenseiten, den lachenden Mund, der eine ebenmäßige Zahnreihe

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