Das Wesen. Psychothriller
über sie, Alex.« Er stützte die Unterarme auf den Oberschenkeln ab und legte die Hände zwischen den Knien zusammen. »Nicole hatte schon damals ab und zu … außergewöhnliche Gemütszustände. Es gab Tage, da war sie so in sich selbst versunken, dass sie überhaupt nicht reagiert hat, wenn ich sie angesprochen habe. Oft saß sie dann in ihrem Sessel, der so stand, dass sie nach draußen schauen konnte. Sie hatte dann die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen und sich … irgendwie zusammengezogen. Manchmal hat sie stundenlang leise vor sich hin gesummt.« Er griff zu der Weinflasche, die in einem durchsichtigen Kunststoffkühler stand, schenkte uns nach und trank einen großen Schluck. »Anfangs hab ich sie ein paarmal darauf angesprochen, sobald sie wieder … normal war. Sie hat mir erklärt, das wäre nichts Schlimmes, sie bräuchte einfach manchmal diese Zeit, in der sie mit sich und ihren Gedanken alleine ist. Als ich ihr zum ersten Mal vorgeschlagen habe, zusammen mit ihr zu einem Therapeuten zu gehen, hat sie mir klipp und klar gesagt, wenn ich noch ein einziges Mal versuchen würde, sie zu einem Psychiater zu schleppen, würde sie mich verlassen, auf der Stelle.« Er löste seinen Blick von seinen Händen und sah mich an. »Ich hab das als Folge ihrer Beziehung zu diesem Kerl gesehen, Alex. Was sollte ich denn machen? Ich dachte, wenn sie mich verlässt, verliere ich den Verstand.« Wieder eine Pause. »Ich glaube, ich hätte damals alles für sie getan.«
Da war sie wieder, die Faust in meinem Magen. Sie hatte mich schon die ganze Zeit umkreist, bereit, jederzeit zuzustoßen, sich in meine Innereien zu bohren. Er
hätte
damals alles für sie getan …
»Du wirst das wahrscheinlich nicht verstehen, Alex, aber … da war so was wie eine Abhängigkeit. Ich dachte wirklich, ich kann nicht mehr ohne sie leben.«
Nie hätte ich es für möglich gehalten, solche Worte aus dem Mund von Bernd Menkhoff zu hören, der von vielen Kollegen wegen seiner ruppigen Art regelrecht gefürchtet war.
»Gab es denn noch andere … außergewöhnliche Gemütszustände?«
»Nein. Na ja, sie hatte … ziemliche Probleme mit Nähe. Also … Körperkontakt. Manchmal hat sie mich sogar weggestoßen, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte. Und das andere, im Bett … ganz selten, und wenn, dann lag sie stocksteif da, als würde sie es über sich ergehen lassen.«
Seine Augen waren wieder glasig geworden, und bei allen Fragen und Zweifeln, die ich hatte, tat er mir in diesem Moment unendlich leid. Wie sehr musste er diese Frau geliebt haben, um das alles zu akzeptieren und zu ertragen.
»Ich war mir damals sicher, dass sie durch Lichner so geworden war. Er hat sie geschlagen, und ich hab immer befürchtet, dass er noch andere Dinge …. Von diesen Krankenakten hab ich nichts gewusst, und auch nicht, dass sie ausgerechnet bei dem Kerl selbst in Behandlung war. Aber ganz egal, wie seltsam sie sich manchmal auch verhalten hat – sie war der liebenswürdigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Alles, was sie tat, hatte eine Tiefe, Oberflächlichkeiten gab es bei ihr in unserer Beziehung nicht, sie … sie war einfach anders, als du sie vielleicht gesehen hast, Alex. Wie soll ich es nur ausdrücken? Das meiste, was du von ihr gekannt hast, war gespielt, es war Schein. Das war nicht die wirkliche Nicole, wie ich sie kannte. Was …« Er suchte nach Worten. »Was du als Außenstehender nicht sehen konntest, war …«
»Ihr Wesen?«
Sie müssen das Wesen erkennen
. Hatte Lichner damit vielleicht Nicole gemeint? Aber was könnte er damit bezweckt haben?
Menkhoff schien überhaupt nicht aufzufallen, dass es der Begriff war, nach dem ich ihn kurz zuvor gefragt hatte.
»Wie auch immer«, fuhr er unbeirrt fort, »jetzt weißt du auf jeden Fall … na ja, ein bisschen mehr über Nicole. Was meinst du, wollen wir anfangen?«
»Gut«, sagte ich und stand auf. »Ich hole die Ordner.«
Auf dem Weg nach draußen spulte sich in meinem Kopf ein Band ab, das immer wieder den gleichen Satz wiederholte:
Sie müssen das Wesen erkennen.
43
23. Juli 2009, 20.52 h
Wir einigten uns darauf – nein, es war Menkhoffs
Wunsch
–, dass wir uns die Berichte zusammen ansahen. Anhand der ersten Seiten jedes Ordners fanden wir schnell den mit den ältesten Dokumenten. Menkhoff zog die Chromringe in der Mitte auseinander, nahm einen Stoß der Papiere heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. Nachdem er die erste Seite
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