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Das Wetter vor 15 Jahren

Das Wetter vor 15 Jahren

Titel: Das Wetter vor 15 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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noch der herrlichste Sommertag. Vor drei Minuten ist es erst dunkel geworden. Vor einer Minute hat man noch gedacht, der Regen kommt und kommt nicht. Vor dreißig Sekunden hat man geglaubt, das Wetter wird wohl hinten hinuntergehen.
    Vor zwanzig Sekunden ist es noch unerträglich schwül gewesen. Vor zehn Sekunden ist erst die Temperatur in den Keller gefallen. Vor einer Sekunde ist erst die Luft verschwunden.
    Literaturbeilage Wie wenn ein Boxer die Faust zurückzieht.
    Wolf Haas Ja, ich weiß eh, dass das ein bisschen mühsam klingt. Aber den Boxer hab ich nicht für den Schlag gebraucht. Sondern nur wegen den Tropfen. Weil es dann ja nicht einfach zu regnen anfängt. So ist es ja nicht! Es ist ja nicht so, dass es einfach in Kübeln vom Himmel kommt, jetzt muss ich auch einmal was Englisches sagen. Wissen Sie, wie man auf Englisch sagt? Es regnet Leintücher.
    Literaturbeilage Was sind Leintücher?
    Wolf Haas Bettlaken. Sheets.
    Literaturbeilage Ach ja, it's raining sheets!
    Wolf Haas Es regnet Bettlaken, Leintücher, also ohne Luft dazwischen. Flächenregen. Nein, nicht Flächenregen. Regenflächen! Der Himmel fällt vom Himmel sozusagen. Darum schiebt es ja die Luft so brutal über die Felder.
    Literaturbeilage Aber Sie sagen, die Regenflächen kommen nicht einfach so?
    Wolf Haas Vorher gibt es eben diesen Moment. Luft weg. Temperaturabfall, als hätte das Leichenschauhaus Tag der offenen Tür.
    Literaturbeilage Das ist gut! Tag der offenen Tür im Leichenschauhaus. Schade, dass Sie das nicht im Buch geschrieben haben.
    Wolf Haas Nein, so was kann man Herrn Kowalski beim besten Willen nicht in den Mund legen.
    Literaturbeilage Schade, da spürt man richtig die Temperatur sinken, bei der Vorstellung, wie die Tür so einer Leichenhalle aufgeht.
    Wolf Haas Ja, die große Kühlschranktür. So ein ruckartiger Temperaturabfall, das hat schon was. Aber darum ging es mir nicht. Sondern eben um die paar feinen Tropfen, die gleichzeitig von vorn, darum ging es mir, die von vorn kommen, also nicht von oben, nicht Regen, es regnet ja noch nicht, sondern sozusagen statt dem Wind spritzen diese feinen Tropfen, eben wie wenn so ein Schwergewichts-Tier zum vernichtenden Schlag ansetzt, und als Vorboten der Vernichtung spritzen dem Gegner ein paar Schweißtropfen ins Gesicht. Literaturbeilage Den eigentlichen Schlag haben die beiden dann ja gar nicht richtig mitgekriegt.
    Wolf Haas Wie es eigentliche Schläge so an sich haben.
    Literaturbeilage Und als Leser geht's einem im Grunde genauso. Man hat ja auch beim Lesen ürgendwie so ein Trägheitsmoment. Und während die beiden schon ganz woanders sind, verharrt man immer noch. Man ist in seiner Leseträgheit eigentlich noch unten, wo die beiden gerade erst die Stromautobahn unterquert haben, wo sie ein paar Meter nach der Stromautobahn kurz verschnaufen und dem Blitz nachschauen.
    Wolf Haas Ja, die lange Sekunde davor.
    Literaturbeilage Es regnete nicht und es blitzte nicht und es donnerte nicht. Und es surrte auch nicht mehr. Die Insekten waren auch weg. Es war absolut still.
    Wolf Haas Nur die gelbe Tafel mit der Aufschrift Lebensgefahr!, die sich gerade noch am Hochspannungsmast befunden hatte, trieb laut scheppernd über den Hügel.
    Literaturbeilage Tanzte.
    Wolf Haas Bitte?
    Literaturbeilage Im Buch heißt es: „Nur die gelbe Blechtafel mit der Aufschrift Lebensgefahr! tanzte laut scheppernd über den Hügel." Ich sage das nur, weil sich mir dieses Bild so eingeprägt hat. Wolf Haas Jetzt steht „tanzte" drinnen? Ja stimmt, ich hab da ziemlich oft herumgebessert: Tanzte, trieb, hüpfte. Normalerweise ist mir so was wurscht. Aber hier war es mir auf einmal sehr wichtig. Diese Bewegung der Blechtafel, die über den Hügel hüpft.
    Literaturbeilage Wie zuvor der Blitz.
    Wolf Haas Aber ehrlich gesagt hätte ich jetzt lieber „trieb" geschrieben als „tanzte". Das Hüpfende ist ja schon im „Scheppern" enthalten, also dass sie immer wieder aufschlägt und so weiter. Ich weiß nicht, warum, aber das ist irgendwie meine Lieblingsstelle im ganzen Buch. Ich hab immer so meine persönliche Lieblingsstelle, wo niemand richtig nachvollziehen kann, wieso gerade das.
    Literaturbeilage Ich dachte, das mit dem Lippenstift auf der Backe sei Ihre Lieblingsstelle?
    Wolf Haas (lacht) Da meinte ich diese Stelle, wo er hingeküsst wird.
    Literaturbeilage Zwei Zentimeter in gerader Linie vom äußeren Augenwinkel?
    Wolf Haas Das ist meine Lieblingsstelle. Kussmäßig.
    Literaturbeilage Ach

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