Das Wiegen der Seele (German Edition)
Er gab nach und mit einem gewaltigen Knirschen öffnete sich eine Tür, die in die Mauer eingelassen war.
Nettgen war fasziniert und stand staunend vor der Öffnung. Die Aufzeichnungen des Professors waren tatsächlich richtig. Als Nettgen die Tür ganz aufgedrückt hatte, gab es ein Klick! und der Stein sprang aus der Öffnung. Nettgen nahm ihn wieder an sich.
Hinter der Tür führte der Gang weiter. Nettgen tastete sich vorsichtig voran, bis er nach einiger Zeit vor der nächsten Tür stand. Er probierte das Ganze nochmals, diesmal mit nur einer Drehung des Steines. Die nächste Tür sprang auf.
Alles verlief nach Plan, doch zwischen der sechsten und siebten Pforte machte er eine grausige Entdeckung. Der Lichtstrahl der Taschenlampe erwischte ein Skelett, das zusammengesunken auf dem Boden lag. Der Anblick bereitete ihm eine Gänsehaut, sodass er für kurze Zeit den Blick abwenden musste. Als er jedoch vorsichtig an dem Skelett vorbeiwollte, glitzerte ein Ring auf, der an einem Fingerknochen steckte. Nettgen trat vor, beugte sich und nahm den Ring mitsamt Finger an sich. Er schüttelte den Knochen ab und richtete das Licht der Lampe auf das Schmuckstück. Das Teil war mit einem Kopf aus purem Gold versehen. Der Kopf des Anubis. E r fragte sich, wo er den Ring schon mal gesehen hatte. Prompt fiel es ihm ein: Bahabi hatte g enau denselben getragen.
Der Schädel des Skelett s lag rund zwei Meter weiter entfernt . Irgendwann im Laufe der Zeit hatte der Kiefer sich gelöst und war teilweise abgefallen, sodass der Schädel jetzt irgendwie verblüfft wirkte, als könne er seinen Tod nicht so ganz fassen. Das Fleisch war komplett weg, doch ein dicker Haarzopf lag lose auf dem Hinterkopf. Nettgen griff ohne zu überlegen nach dem Schädel und hob ihn auf. Der Kiefer klappte weg und vor Schreck ließ Nettgen den Schädel fallen. Er schlug mit einem hohlen Geräusch auf, der Unterkiefer brach und schlidderte über den Boden. Der Kopf beschrieb ein paar lustige Kurven, bevor er im Staub zur Ruhe kam.
„Armer Kerl, was hast du auch hier zu suchen?“, murmelte Nettgen, verstaute den Ring in seiner Hosentasche und machte sich weiter zur nächsten Pforte. Nettgen bewegte sich vorsichtig wie ein Indianer. Immer wieder drehte er sich um und vergewisserte sich, dass er nicht verfolgt wurde. Nach dem Fund des Skeletts ging er die Sache mit allergrößter Vorsicht an .
Dann stand Nettgen vor der letzten Pforte. Er meinte, einen leicht süßlichen Geruch wahrzunehmen. Seine Hände waren schweißnass. Was erwartet mich dahinter?
Vorsichtig drehte er den Stein.
Klack ... klack ... klack ... Die Tür sprang auf.
Durch den Spalt drang warmer Lichtschein und feine Nebelschwaden zogen um Nettgens Füße. Er hielt die Luft an. War er nicht allein hier? Er bewaffnete sich mit dem Brecheisen. Vorsichtig drückte er die Tür weiter auf.
Er traute seinen Augen nicht.
Nettgen sah in das Innere eines riesigen Gewölbes. Mächtige Säulen aus Marmor und Granit stützten die Decke. Feine Goldverzierungen versahen die sonst eher öden Wände mit schimmerndem Glanz. Hunderte flackernde Wand- und Bodenfackeln erhellten die Kammer und warfen ihre Schatten an die Wände. Staunend betrat Nettgen den Saal. Alle Vorsicht war wie weggeblasen. Vor der Mitte der gegenüberliegenden Wand erhob sich eine Art Thron, der von einem Baldachin geschmückt war. Links und rechts daneben zählte Nettgen jeweils dreiundzwanzig steinerne Sitze, die im Halbkreis an den anderen Wänden angeordnet waren. Das Kernstück des Raumes bildete eine goldene Waage mit zwei bunt verzierten Schalen aus Glas. Im Schein der Fackeln glänzte sie so, als komme Licht aus ihrem Inneren.
Nettgen wusste plötzlich, wo er sich befand. Und er wusste, wonach der Professor gesucht hatte. Tatsächlich war diese Entdeckung wohl wertvoller als alles, was in irgendeinem Grab zu finden war. Das Seelengericht!
Die letzten Monate gingen ihm durch den Sinn. Vor seinem inneren Auge lief eine Diashow ab. Crampton, Kairo, das Tal der Könige, der Professor, Maria, Hieroglyphen, Anubis und immer wieder – die Waage.
* * *
Was würde wohl passieren, wenn heute seine Seele aufgewogen würde? Die Waage übt eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Er muss sie berühren. Langsam – wie in Trance – g eht er auf die Waage zu.
Schritt für Schritt nähert er sich ehrfurchtsvoll dem leuchtenden Objekt und streckt seine Hand danach aus. Nur noch wenige Millimeter trennen seine
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