Das Wiegen der Seele (German Edition)
Erde führte. Am Ende des Schachts angelangt, rannte er durch einen langen, dunklen Gang. Seine gewaltigen Schritte erschütterten die Wände des Gewölbes, so dass feiner Sand und Gestein von der Decke rieselten. Immer wieder schallte sein Gebrüll bis in die Kammer und ließ dem Priester vor Angst Schauer über den Rücken laufen.
Anubis steuerte auf den Gerichtssaal zu, dessen Eingang vom Lichtschein der Wandfackeln beleuchtet wurde. Sein Schnaufen und Lechzen wurde deutlich lauter. Mit einem riesigen Satz sprang er in die Kammer und landete mit einem weiteren genau neben dem Priester. Er stieß erneut einen grauenhaften, ohrenbetäubenden Schrei aus. Dabei fletschte er seine bedrohlichen, messerscharfen Reißzähne und blickte wutempört auf den Priester herab. Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Das Ritual konnte beginnen.
Maat erhob sich und reichte Horus eine ihrer Straußenfedern. Horus schritt zur Waage und legte das Herz in die linke Schale, die Feder in die rechte. Anubis ließ keinen Blick von der Waage und überwachte das Wiegen der Seele.
Das Herz wurde aufgewogen und so die Sünden gewichtet. Wenn der Tote in das Reich des Osiris eingehen wollte, musste das Gewicht des Herzens mit dem der Feder übereinstimmen. Nur dann befand sich die Seele in Harmonie mit den moralischen Normen der Gesellschaft.
Dem Wiegen der Seele konnte sich kein Verstorbener entziehen.
In diesem Fall überwog das Herz.
Der Schutzherr der Schreiber Thot , schrieb das Ergebnis nieder. Die große Leichenfresserin Ammut erhob sich. Sie wartete schon ungeduldig auf den Richterspruch des Osiris. Ihre Aufgabe war es, im Falle der Verurteilung die Seele des Toten zu verschlingen. Auch die zweiundvierzig anderen Richtergottheiten warteten. Sie alle mussten noch über die Qualitäten des Verstorbenen Rechenschaft ablegen. Gespannt blickten sie zu Osiris.
Als dieser schließlich den Kopf senkte und damit seine Zustimmung gab, packte Anubis den Priester und stieß ihn vor die Richter. Doch noch bevor die Richter zu Worte kamen, stieß Anubis erneut einen brutalen Schrei aus, packte den Verstorbenen am Schopf und drückte ihn mit seinen mächtigen Krallen auf die Knie.
Noch nie zuvor hatte sich Anubis dem Gericht widersetzt oder dessen Protokoll ignoriert. Diesmal lag der Fall jedoch anders: Als Gott der Einbalsamierung und Mumifizierung fühlte er sich von dem Priester hintergangen. Dafür konnte es nur eine Strafe geben. Er verkündete Osiris sein Urteil: Die Seele des Priesters solle in einem „ Grab der ewigen Dauer“ für alle Zeiten gebunden sein und niemals die Gelegenheit erhalten, in das Totenreich einzugehen. Der Priester hatte gegen die Gebote des Totenbuches verstoßen, die uralten Rituale entweiht. Also durfte er auch nicht nach dem Codex des Totenbuches Frieden finden, sondern sollte für alle Zeiten an seine Sünden erinnert werden.
Die Versammelten waren entsetzt. Nie zuvor hatte man Anubis so gesehen. Alle blickten gespannt zu Osiris. Würde er sich Anubis’ Urteil anschließen? Würde er es dulden, dass seinem Richterspruch vorgegriffen wird?
Die nachfolgenden Minuten zogen sich wie Stunden. Unendlich langsam schien die Zeit zu vergehen. Die Stille war kaum erträglich ... Endlich! Langsam senkte Osiris den Kopf und gab mit dieser Geste seine Zustimmung zu verstehen. Osiris überließ den Verstorbenen Anubis.
Trotzdem musste auch Anubis für die Missachtung des Gerichtes bestraft werden. Osiris verurteilte ihn dazu, das Grab des Priesters persönlich und bis in alle Zeiten zu bewachen.
Demütig nahm Anubis das Urteil an. Er ergriff den Verstorbenen und nahm ihn mit sich.
Um sicherzugehen, dass die Seele nicht in das Totenreich eingehen konnte, legte Anubis dem Priester ein eigens für ihn angefertigtes Totenbuch mit ins Grab. Alle Rituale, welche die Seele ins Totenreich geleiten sollten, fehlten in diesem Buch. Es war zugleich Vollstreckung und Warnung an die Nachwelt: Wer den Totenritus verletzt, der wird nach Anubis’ Buch gerichtet, dessen Seele wird zur Unsterblichkeit verdammt, aber niemals Frieden im Totenreich finden.
* * *
Anubis geleitete den Priester in das Grab ewiger Dauer.
Wehe dem , der diese Stätte entweiht! – Der ist zum Tode verurteilt.
Anubis wacht ...
Kapitel 1
Am 17. Mai 2012 wurde Kommissar Nettgen aus den Träumen gerissen, als das Telefon klingelte. Er hatte tief und fest geschlafen und verfluchte den Anrufer, denn er fühlte sich
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