Das Wiegen der Seele (German Edition)
nicht beantwortet: Was hatte Crampton wirklich gesucht?
Niemand investiert Jahre seines Lebens in Expeditionen, ruiniert seine Ehe und fast auch seinen Ruf, um am Ende den einmaligen Fund – das Totenbuch – unberührt zu lassen.
Ja, für die Kollegen war der Fall abgeschlossen, nicht aber für Nettgen. Er hatte Monate damit verbracht, sich schlaflos nur noch diesem Fall hinzugeben. Er hatte mehr eingesteckt als je zuvor. Er hatte alles riskiert und Weggefährten verloren. Am Ende hatte ihn nur riesiges Glück vor dem Tod bewahrt.
Er konnte jetzt nicht so einfach aufgeben. Er trat vor den Kleiderschrank, zog sich an und fuhr ins Büro. Als die Kollegen ihn sahen, brach Jubel aus. Jeder gratulierte ihm und beglückwünschte ihn zu der schnellen Genesung. Er konnte nicht zählen, wie viele Hände aufmunternd und achtungsvoll seine Schulter klopften.
Das war Nettgen alles zu viel. Er ging in sein Büro und fand es fast so vor, wie er es verlassen hatte. Wenn die Kollegen in seiner Abwesenheit seine Unterlagen benutzt hatten, hatten sie sich wenigstens Mühe gegeben, alles wieder genauso herzurichten, dass er sich heimisch fühlen konnte. Von den Wänden starrten ihn noch immer die Fotos der verschiedenen Leichenfunde und Indizien an. Nettgen schluckte. In diesem Moment hätte er etwas dafür gege be n, diese Fotos niemals wieder hätte sehen zu müssen.
Er nahm die Unterlagen vom Schreibtisch, wegen denen er gekommen war und verließ fluchtartig den Raum. Löffler war nicht da, so musste er wenigstens nicht allzu viel erklären.
Aus dem Büro der Spurensicherung besorgte er sich eine UV-Lampe. Der Kollege sträubte sich zunächst ein bisschen, wollte sich aber nicht mit dem Held des Präsidiums anlegen und überließ sie ihm. Dann fuhr Nettgen nach Hause.
Eine Stunde später stapelten sich Kartons und Akten auf seinem Sofa. Auf dem Boden davor lagen die Papiere aus Cramptons Bibliothek, daneben die Ergebnisse seiner eigenen Ermittlungen. Voller Eifer hatte er sein Wohnzimmer in einen Ermittlungsraum verwandelt. Wohin man auch schaute, überall Papiere, Fotos, Bücher, Akten. Das Zimmer war kunterbunt bestückt und vermutlich war Nettgen die einzige Person, die in diesem Chaos einen Sinn erkennen konnte.
Nettgen stellte sich wie ein Künstler inmitten dieses Durcheinanders und betrachtete sein Werk. Irgendwo hier war die Lösung versteckt. Er machte sich auf den Weg in die Küche. Bevor er mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnte, mussten noch ein paar Vorbereitungen getroffen, das heißt Kaffee aufgesetzt und Bier kaltgestellt werden. Während das Kaffeewasser sprudelnd durchlief, legte er noch zwei neue Batterien in sein Tonbandgerät und positionierte es auf dem Wohnzimmertisch. Nichts, auch nicht der kleinste Gedankenansatz sollte ihm entgehen. Nun fehlte nur noch eine kleine Sache … Musik!
Er wusste nicht so recht, welche CD für eine solch ungewöhnliche Situation wohl die richtige sei. Nach langem Überlegen entschied er sich schließlich für keltische Klänge. Inzwischen war der Kaffee durchgelaufen, also konnte es losgehen!
Nettgen stellte sich wieder mitten in sein Kunstwerk und schaltete das Tonbandgerät ein.
„Was genau suchte Crampton, und vor allem: Wo befand es sich?“ Diese Frage war laut in den Raum gerichtet, als ob die Papiere ihm antworten könnten. Und genau das hoffte Nettgen auch.
Doch bevor er sich mit dieser Frage näher beschäftigen konnte, klingelte sein Telefon. Widerwillig nahm er ab.
„Hallo?“
„Hallo Ralf. Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht und was du so machst“ , hörte er Marias Stimme.
„Maria, das ist lieb von dir. Och – weißt du, eigentlich ruhe ich mich nur ein wenig aus. Ich war heute mal kurz im Präsidium, aber ich bin doch noch etwas schlapp ...“
„Gut so. Kurier du dich erstmal in aller Ruhe aus, bevor du wieder in den Dienst gehst. Das darf doch nicht wahr sein! Am ersten Tag schon wieder im Büro . “
„Und was machst du Schönes?“, lenkte Nettgen vom Thema ab.
Maria schnaufte, schwieg für einen Moment und meinte dann: „Ich trenne mich von einigen Gegenständen und Mitbringseln aus Ägypten. Ich kann diesen ganzen Mist nicht mehr im Haus haben. Das erinnert mich ständig an das, was geschehen ist. Ich wollte gerade die Bilder im Treppenhaus abhängen. Ich kann diesen Anubis einfach nicht mehr sehen, ohne dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft, verstehst du das?“
Sie wartete kurz, doch bekam keine Antwort von
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