Das wilde Kind
Stränge schlagen (und tatsächlich besaß er keinerlei Scham und zog beispielsweise das Hemd hoch, soweit es der Strick um seine Taille zuließ, um sich am Feuer zu wärmen, oder spielte mit seinem Penis, als wäre es ein Zinnsoldat).
Jedenfalls bearbeitete Bonnaterre – ein strenger, imposanter Mann, dessen Gesicht, so rot wie ein Schinken, umkränzt war von den weißen Locken seiner Perücke – eine Zeitlang die Instrumente, schlug die Trommeln, strich mit dem Bogen über die Saiten der Gambe, klatschte in die Hände, rief und sang, bis den Gärtner der Gedanke beschlich, er könnte den Verstand verloren haben. Der Junge reagierte nicht. Er verzog keine Miene, er lächelte nicht, er wandte nicht den Kopf, einerlei, wie laut die Geräusche waren. Doch dann nahm der Gärtner aus Langeweile eine Walnuss aus der Schüssel, die auf der Anrichte neben der Tür stand, wo der Junge sie nicht sehen konnte, und öffnete sie mit dem Nussknacker, wobei das Geräusch, das er machte, in dem allgemeinen Lärm, den sein Herr erzeugte,kaum wahrzunehmen war, und – es war wie ein Wunder – der Kopf des Jungen fuhr herum. Im nächsten Augenblick war er beim Gärtner und machte sich über die Nüsse her; eine Sekunde später hockte er auf der Anrichte, legte die Nüsse auf die glänzende Mahagoniplatte und drosch mit dem nächstbesten Gegenstand – einem silbernen Kerzenleuchter – darauf ein.
Das Möbelstück hatte Schaden genommen, doch Bonnaterre fühlte sich ermutigt. Der Junge war keineswegs taub; vielmehr hatten sich seine Sinne derart auf die Laute der Natur eingestellt, dass von Menschen erzeugte Geräusche, ganz gleich, wie heftig oder durchdringend, ihn nicht zu beeindrucken vermochten. In der Wildnis gab es eben weder menschliche Stimmen noch Gamben. Wenn er auf seiner unablässigen Suche nach Nahrung durch den Wald kroch, achtete er nur auf das Fallen eines Apfels oder einer Kastanie, auf das Keckern eines Eichhörnchens oder vielleicht, auf einer übernatürlichen Ebene, auf die winzigen Schwingungen, die eine Schnecke aussandte, wenn sie auf ihrer Schleimspur dahinglitt. Wenn aber alles Sinnen und Trachten des Kindes während seines Lebens in der Wildnis auf Nahrung gerichtet gewesen war, wie würde es jetzt reagieren, wenn Nahrung im Überfluss vorhanden war und es sie ohne Mühe erlangen konnte? Würde es beginnen, ein Innenleben zu entwickeln, ein auf Annahmen und Schlüsse gegründetes Leben, anstatt ausschließlich auf äußere Objekte fixiert zu sein?
Bonnaterre erwog diese Fragen, während er den Jungen Tag um Tag beobachtete, und sah, dass er rudimentäre Zeichen entwickelte, um seine Wünsche mitzuteilen. So wies er etwa auf den Wasserkrug, wenn er durstig war, oder nahm seinen Betreuer an der Hand und führte ihn in dieKüche, um dort auf dies oder das zu zeigen, wenn er Hunger hatte. Wenn sein Verlangen nicht sofort erfüllt wurde, warf er sich zu Boden, bewegte sich rasch auf Händen und Füßen und rieb mit dem Hinterteil über die glatten Dielen, wobei er ein markerschütterndes, aus tiefer Kehle kommendes Geheul ausstieß, das an- und ab- und aus dem Nichts wieder anschwoll.
Gab man ihm, was er wollte – Kartoffeln, Walnüsse oder Saubohnen, die er erstaunlich schnell und geschickt pälte –, so aß er, bis es schien, er müsse platzen, fünfmal soviel wie andere Kinder, und anschließend barg er die Reste in seinem Hemd, stahl sich in den Hof und vergrub sie als Vorrat für später, nicht anders, als es ein Hund mit einem Knochen gemacht hätte. Wenn man ihm das Essen in Gesellschaft anderer reichte, zeigte er keine Rücksicht oder Höflichkeit, sondern nahm sich alles, was er haben wollte, sei es durch kühnen Zugriff, sei es durch heimlichen Diebstahl, ohne einen Gedanken an seine Mitmenschen zu verschwenden. Im Verlauf der dritten Woche begann er, das ihm angebotene Fleisch anzunehmen, zunächst nur rohes, dann aber auch gekochtes, und nach und nach entwickelte er eine Vorliebe für Bratkartoffeln: Wenn ihn der Wunsch danach überkam, ging er in die Küche, nahm Messer und Pfanne und zeigte auf den Schrank, in dem die Kartoffeln und das Öl verwahrt waren. Es war ein primitives Leben, das nur auf ein einziges Ziel – nämlich Nahrung – ausgerichtet war, und Bonnaterre erkannte in ihm die Ursprünge des primitiven menschlichen Lebens, unberührt von Kultur, Bewusstsein und menschlichen Gefühlen. »Wie sollte er denn Kenntnis von der Existenz Gottes haben?« schrieb Bonnaterre. »Wenn
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