Das wilde Kind
Doktor enttäuscht? War er geschlagen, vernichtet, wo er sich am sichersten gefühlt hatte? Hörte er in Gedanken immer wieder die Worte des Abbés: »Geben Sie auf – es wird Sie zerstören«? Ja, natürlich, wie hätte es anders sein können? Es offenbarte sich in seinem Gesicht, seinen Gesten, seiner Haltung gegenüber seinem Schützling und Schüler: Es machte ihn zornig, Victor zu sehen, die dünnen Handgelenke, den zu großen Kopf, die Fettpolsteran der Taille und den Wangen, an der Brust und unter dem Kinn, wenn der Junge die Metallbuchstaben in die richtigen Fächer legte und jedesmal, wenn er erfolgreich war, »Lait!« rief.
Itard wusste nicht, ob es sein Widerwille, seine Schroffheit in diesen Tagen nach der großen Enttäuschung gewesen waren, die Victors erste große Krise in seiner Zeit im Institut heraufbeschworen, doch als er am Morgen in den vierten Stock hinaufstieg und das Bett des Jungen leer fand, gab er sich selbst die Schuld. Victor war weder bei den Guérins noch in Sicards Arbeitszimmer, und er saß auch nicht träumend am Teich. Man durchsuchte die Schlafsäle der taubstummen Schüler, man durchsuchte das ganze Gelände bis in den letzten Winkel, aber vergebens. Als wäre es nur die Ausgeburt einer kollektiven Phantasie gewesen, war das wilde Kind wieder verschwunden.
7
Im Dunkeln, jenseits der Tore des Instituts, war Victor ganz auf sich allein gestellt. Es gab zuviel Lärm. Es gab zu viele Menschen. Nichts erschien ihm vertraut, nichts erschien wirklich. Der Himmel war zerklüftet und nicht wiederzuerkennen, die Stadt war wie eine steinerne Blume, die in dieser mondlosen Frühlingsnacht erblühte und deren Blütenblätter sich zu tausend Sträßchen, Abzweigungen und Sackgassen öffneten. Etwas hatte ihn aus dem Bett getrieben, die Treppe hinunter, über den Hof, zum Tor und hinaus auf die Straße, aber er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war. Irgendeine Kränkung, eine Verletzung, die fortwährende und nicht zu lindernde Enttäuschung über das Scheitern seiner Versuche, diesen Mann mit den zupackenden Händen und dem bohrenden Blick zufriedenzustellen – ja, und noch etwas anderes, etwas, das er nicht fassen konnte, weil es in ihm war und im Rhythmus seines Herzens pulsierte.
Zuvor, kurz nach dem Abendessen, war eine der Taubstummen auf dem Korridor vor seinem Zimmer stehengeblieben und hatte die Hand ausgestreckt. (Sie war nicht wie er selbst, sondern eine Sie, eine neue, erst am Morgen eingetroffene Schülerin mit Haaren, die über ihren Rücken herabhingen, und einem Sichtschutz aus schwerem,gefaltetem Stoff, der ihre Beine und das andere verbarg, das dort war, jenes berauschende Mysterium ihres Körpers, das er spürte, wie er die Anwesenheit eines Tiers in einer stillen Schlucht oder die versteckte kleine Höhle in der Erde spürte, in der sich dann ein Maulwurf oder ein Trüffel fand.) Sie bot ihm etwas an, ein Stück Kuchen direkt aus dem Ofen, klein und süß, aber er mochte so etwas nicht und schlug es ihr aus der Hand. Da lag es nun zwischen ihnen auf dem Boden. Sie hielt den Atem an. Ihr Gesicht veränderte sich. Und plötzlich sprangen ihre Augen ihn an, sie hob die Arme, ihre Ellbogen standen spitz vor, und ihre Finger bogen und streckten sich, als sei sie plötzlich verrückt geworden. Er wich vor ihr zurück, aber als sie sich bückte, um den Kuchen aufzuheben, trat er von hinten an sie heran und legte die Hände dorthin, an die Stelle, wo ihre Beine sich unter all dem Stoff vereinigten – er wusste nicht, was er tat oder warum er es tat.
Dennoch hatte es Konsequenzen. Sie machte einen Satz, als wäre sie gestochen worden, wirbelte herum und fuhr ihm mit den Nägeln über das Gesicht, und er begriff nicht und schlug zurück, und plötzlich stieß sie einen animalischen Schrei aus, ein anschwellende Klagegeheul, das durch den Korridor hallte, bis der Mann erschien, mit verrutschter Jacke und das Gesicht zu jenem Ausdruck verzerrt, der Gefahr signalisierte, und so duckte Victor sich, doch der Mann packte ihn grob und machte seine Stimme hart und hässlich, bis auch sie von den Steinen widerhallte. Warum dieses Brüllen, dieser Lärm? Zusammengebissene Zähne, Lippen, die zusammengepresste Töne ausspuckten, jede Silbe wie ein Schlag, und warum, warum? Der wütende Griff verursachte ihm körperlichen Schmerz, wie ihn jedes lebende Wesen gespürt hätte, jeder Hund, der amHalsband gepackt wurde, doch das war nichts im Vergleich zu dem tieferen Schmerz: Dies
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