Das wilde Kind
sich in der Ferne zu berühren schienen. Mit einemmal hatte er Angst. Das Experiment war beendet. Victor war für immer verschwunden.
Als er sich wieder aufrichtete und, den Taubstummen an seiner Seite, durch die Gasse eilte, stellte er sich vor, wie Victor, geleitet von Nase und Ohren, rasch durch die Stadt lief, wie er seine Kleider abwarf und am Ufer der Seine entlangrannte, bis das Land sich zu Feldern weitete und es dichtbewaldete Schluchten gab. Er dachte nicht darüber nach, was der Junge essen würde oder dass er jetzt abhängig und durch Überfluss und Luxus schwerfälliger geworden war, er dachte nur an Victors Augen und Zähne und stellte sich vor, wie er sich bückte und einen Frosch oder eine Schnecke aufhob und verschlang – ja, und wie gut hatten ihn die endlosen Übungen, das Sortieren von Figuren und Buchstaben, das Erzeugen von Vokalen im Kehlkopf, darauf vorbereitet? Das alles war nichts. Das Leben war nichts. Er – Itard –, der sich so viel auf sich selbst, seine Kraft und seinen eisernen Willen zugute hielt, war ein Versager.
Kurz darauf traten sie aus der Gasse auf eine nasse, gewundene, sehr belebte Straße. Die Menschen trugen oder zogen Lasten, sie drückten irgendwelche Dinge an sich, als hinge ihr Leben ab von diesem Laib Brot, dieser Wurst, diesem Block Paraffin. Keine Chance, ihn hier zu finden, keine Chance, und er dachte an Victors leeres Zimmer, und im selben Augenblick, in dem er den Schmerz des Verlustes empfand, spürte er, wie ihn blitzartig das Gefühl einer Befreiung durchfuhr. Das Experiment war beendet. Vorbei. Erledigt. Keine endlosen Stunden mehr, keine Übungen,kein Versagen, kein Ärger, kein Kampf gegen das Unvermeidliche – er würde den Rest seines Lebens leben können. Aber nein. Nein. Er sah Victors Gesicht vor sich, das zitternde Kinn, die tiefliegenden Augen, die schmalen Schultern und das stolze Strahlen, wenn er eine Figur richtig eingepasst hatte, und schämte sich. Er schaffte es kaum, die Füße zu heben, als er durch die tristen, unruhigen Straßen zurück zum Institut ging.
Es war Madame Guérin, die nicht aufgeben wollte. Sie suchte in den Straßen, auf den Wegen im Jardin du Luxembourg, wo sie mit Victor Spaziergänge gemacht hatte, in den Cafés und Weinhandlungen und in den Gassen hinter dem Gemüse- und dem Bäckerladen. Sie fragte jeden, dem sie begegnete, und zeigte ihm eine Kohleskizze von Victor, die sie eines Abends angefertigt hatte, als der Junge am Feuer gesessen und seine Kartoffeln beaufsichtigt hatte, sagte ihren Töchtern Bescheid und schickte den alten Monsieur Guérin aus, damit er am Fluss entlanghumpelte und im langsamen, tödlichen Strömen nach dem Unvorstellbaren suchte. Schließlich, am dritten Tag nach seinem Verschwinden, erzählte ihr eine der Frauen, die dem Institut Obst und Gemüse verkauften, sie habe ihn – oder einen Jungen wie ihn – betteln sehen, jenseits des Flusses, auf dem Marktplatz bei Les Halles.
Begleitet von der Frau, machte sie sich sogleich auf den Weg, ihre Schritte waren so schnell, dass sie, als sie die Brücke erreichten, außer Atem war, doch sie ging weiter. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und ihr Gesicht war gerötet. Es war warm und schwül, auf den Straßen standen Pfützen, und der Fluss war von einem flachen, steinernen Grau. Sie schwitzte, ihre Unterkleider und ihre Bluse waren feucht, als sie den Marktplatz erreichten, und dann warder Junge natürlich nirgends zu sehen. »Da!« rief die Gemüsehändlerin plötzlich. »Da drüben, bei dem Blumenstand, da ist er!« Madame Guérin spürte, wie ihr Herz schier stehenblieb. Unter einem Wagen saß ein Junge auf dem Bordstein und nagte an etwas, das er mit beiden Fäusten hielt. Er hatte einen schwarzen Haarschopf und Schultern, so schmal wie ein Mädchen. Sie eilte zu ihm und rief seinen Namen, sie stand vor ihm und beugte sich zu ihm hinunter – und erkannte, dass sie sich geirrt hatte: Der Junge war ein dürres Kerlchen, halb verhungert und nur Haut und Knochen, und er sah sie mit einem feindseligen Blick an, aus Augen, die nicht die Victors waren. Mit einemmal fühlten ihre Beine sich unnatürlich schwer an, und sie musste sich auf einen Hocker setzen und ein Glas Wasser trinken, bevor sie der Frau dankte und sich auf den Rückweg zum Institut machte.
Sie ging langsam, bedächtig, sie sah auf das Pflaster, damit sie nicht in eine Pfütze trat und ihre Schuhe ruinierte, und in Gedanken versuchte sie, mit diesem Verlust fertig zu werden und
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