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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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aufgeschlagen, Hechte geköpft, die Zivilisation schritt voran. Victor saß im Regen, strich mit den Händen über seinen Körper, über das steife Ding zwischen seinen Beinen und dem schweren Wulst um seine Taille, über dieses Wunderding, und dann erhob er sich und ließ sich von seiner Nase über die Straße führen, wo ein offenes Tor Zugang zu einem Hof gewährte, der vom Duft bratenden Fleisches erfüllt war. Hier, unter der Dachtraufe, regnete es nicht so stark. Der Hof war gepflastert. Victor erspähte eine Frau hinter einem Fenster, das einen Spaltbreit offenstand, um Luft hineinzulassen, und er trat näher und sah ihr zu, während sie mit der Pfanne hantierte, und der Duft stieg auf und teilte sich ihm mit. Es dauerte einen Augenblick, dann bemerkte sie ihn: Sein Gesicht war schlammverschmiert, das Haar hingtropfnass herunter, seine schwarzen Augen starrten unverwandt auf ihre Hände, die mit der Pfanne sprachen, auf das züngelnde Feuer und die lange, zweizinkige Gabel. Sie sagte etwas, ihr Gesicht flammte auf vor Zorn, ihre Stimme war ein Knurren, und im nächsten Moment war sie verschwunden, nur um in einer Tür wiederaufzutauchen, die er übersehen hatte. Noch mehr Worte wurden hinaus in den Regen geschleudert, und dann war da der Hund, mit gefletschten Zähnen und kratzenden Krallen, und wieder rannte Victor.
    Aber vier Beine rennen schneller als zwei, und er hatte gerade die Straße erreicht, als der Hund die Zähne in sein rechtes Bein schlug, dort, wo das Gesäß in den langen Oberschenkelmuskel überging. Er verbiss sich und tat seine Wut in der Hundesprache kund, und Victor wusste, dass er auf den Beinen bleiben und den Vorteil seiner Größe nutzen musste und nicht zu Boden gehen und in den Bereich dieser Zähne kommen durfte. Sie zerrten aneinander, der Hund ließ nur los, um abermals anzugreifen, Blut glänzte rot auf der schwarzen Schnauze, und Victor schlug mit beiden Fäusten auf seinen Kopf, als wäre er ein Amboss, bis etwas in ihm nachgab und seine eigenen Zähne ins Spiel kamen und sich in das Ohr dieses Dings gruben. Aus dem Knurren wurde Winseln, ein hoher, quietschender, bestürzter Protest, ein ganz und gar undomestiziertes Geräusch, und der Amboss schlug wie wild hin und her, doch er ließ nicht los, bis das Ohr ihm gehörte und der Hund verschwunden war. Er schmeckte Haar, Knorpel, Blut. Passanten starrten. Ein Mann kam gerannt. Jemand rief Gott als seinen Zeugen an, ein geläufiger Satz, doch Victor wusste nichts von Gott oder einem Zeugen. Zum erstenmal seit lange begrabener Zeit kauteer, ohne an irgend etwas anderes als das Kauen zu denken, und er kaute noch immer, als er sich umdrehte und in seiner zerrissenen Hose davontrottete. Sein Blut rann warm an der Rückseite seines Oberschenkels hinunter.
    Er dachte an nichts. Er dachte nicht an Madame Guérin oder die Speisekammer oder an Itard oder sie, die ihm im vertrauten düsteren Korridor vor seinem Zimmer etwas Süßes angeboten hatte, und er dachte auch nicht an sein Zimmer, an das Feuer oder sein Bett. Beim Gehen spürte er den Schmerz in den Füßen und dieses neue Feuer im Fleisch seines Oberschenkels, und er humpelte und schlurfte und hielt sich so dicht wie möglich an den Mauern. Alles war ausgelöscht, was vor diesem Augenblick geschehen war. Mit hängendem Kopf und hängenden Schultern ging er immer wieder um denselben Block und suchte nichts.
    Itard war in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung gefallen, als einer der Taubstummen, die er ausgeschickt hatte, die Nachbarschaft abzusuchen, mit einem Paar abgewetzter Lederschuhe ankam. Der Junge – er war in Victors Alter, dünn, mit klaren Augen, das Haar vom unfähigen Friseur des Instituts zu kurz geschnitten – beherrschte die Gebärdensprache und konnte Itard mitteilen, wo er die Schuhe gefunden hatte, er führte ihn sogar dorthin und zeigte ihm, in welche Richtung sie gewiesen hatten. Itard war erschüttert. Ihm wurde übel. Die Schuhe – er drehte und wendete sie – waren ungleichmäßig abgenutzt, weil Victors schlurfender Gang mit nach innen gerichteten Zehen die Sohlen entlang der Außenseite stärker beanspruchte. Es gab keinen Zweifel: Diese Schuhe, diese Artefakte, waren ihm so vertraut wie seine eigenen.
    Es regnete, die Pflastersteine glänzten wie lackiert. Tauben hockten auf Fensterbrettern und unter Dachtraufeneng beieinander. Itard beugte sich hinunter und berührte die Stelle, auf die der Junge zeigte, und sah dann die Gasse entlang, deren Mauern

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