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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Stuhl oder auf den Boden. Er hielt ihn aufrecht, bis Victors Muskeln wieder arbeiteten und er allein stehen konnte. Dann wies er ihn ohne jedes Zögern und mit großer Bestimmtheit an, die verbliebenen Pappstücke aufzusammeln, und setzte den Unterricht fort.

    Nach diesem verstörenden Nachmittag schien Victors Haltung verändert. Er sträubte sich zwar noch immer gegen den Unterricht, aber nicht mehr so oft oder so heftig wie zuvor, und Itard brauchte nur auf das Fenster zu zeigen, um jeden Widerstand zu ersticken. Es gab keine Ausbrüche, keine Anfälle mehr. Gehorsam, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, tat Victor, was von ihm verlangt wurde, und widmete sich den ihm gestellten Aufgaben. Nach und nach gelang es ihm leidlich, die verschiedenen geometrischen Formen den jeweiligen Aussparungen zuzuordnen, und Itard beschloss, den nächsten Schritt zu tun und ihm das Alphabet beizubringen, und zwar mit Hilfe seines Tastsinns in Verbindung mit der sich herausbildenden Fähigkeit, visuelle Unterscheidungen zu treffen. Zu diesem Zweck verfertigte er eine Art Brettspiel mit vierundzwanzig Fächern, jedes mit einem Buchstaben markiert, und den entsprechenden vierundzwanzig Buchstaben aus Metall. Victor sollte nun die Metallbuchstaben aus den Fächern nehmen und sie anschließend wieder zurücklegen, eine Aufgabe, die er von Anfang an mit relativer Leichtigkeit zu bewältigen schien. Bei genauerer Beobachtungfiel Itard jedoch auf, dass Victor die Buchstaben keineswegs gelernt hatte, sondern sie sorgsam einen nach dem anderen aus den Fächern nahm und beim Zurücklegen die Reihenfolge lediglich umkehrte, und so machte Itard das Spiel komplizierter, wie er es auch bei den geometrischen Figuren getan hatte, bis Victor sich die Reihenfolge der Buchstaben nicht mehr merken konnte und sich statt dessen auf ihre Formen konzentrieren musste, um sie in die Fächer einzuordnen. Was er schließlich auch tat. Ein echter Sieger.
    Dies führte wenig später dazu, dass Victor sein erstes Wort sprach. Es geschah an einem Spätnachmittag, als Madame Guérin Sultan, ihrem verhätschelten Kater, eine Schüssel Milch hingestellt und auch Victor ein Glas eingeschenkt hatte. Die Metallbuchstaben lagen auf dem Küchentisch, und Itard, der jede Gelegenheit zum Üben nutzte, nahm das Glas, bevor Victor danach greifen konnte, und legte vier Lettern so hin, dass sie das Wort für Milch ergaben: l-a-i-t. Gleichzeitig sprach er es aus – »lait, lait« –, und dann schob er sie über den Tisch zu Victor, der sie sogleich wieder auslegte: t-i-a-l. »Gut, Victor, sehr gut«, murmelte Itard und erkannte seinen Fehler – Victor hatte das Wort auf dem Kopf stehend gesehen. Die Übung wurde wiederholt, und diesmal buchstabierte Victor das Wort korrekt. »Lait, lait«, sagte Itard abermals, und Madame Guérin, die jetzt am Herd stand, fiel mit ein, es war ein Chor, ein Gesang, eine Hymne auf dieses einfache, nahrhafte Getränk, und die ganze Zeit deuteten sie auf die Buchstaben auf dem Tisch, auf die Milch im Glas und auf seinen Mund. Schließlich brachte Victor, der Milch ebenso zu schätzen gelernt hatte wie der Kater, das Wort unter Mühen heraus. Sehr leise und mit eigenartigerIntonation, aber gleichwohl klar und deutlich sagte er: »Lait.«
    Itard war überglücklich. Endlich, endlich war das Mittel gefunden, das den Geist und die Zunge des Jungen befreien würde. Nachdem er ihn überschwenglich gelobt hatte, nachdem er, völlig aus dem Häuschen, Victor stürmisch umarmt und ihm ein zweites und drittes Glas Milch eingeschenkt hatte, bis seine Lippen weiß umrahmt waren, rannte Itard zum Abbé, um ihm von diesem Durchbruch zu berichten. Trotz seiner Zweifel hielt Sicard sich mit einem Urteil zurück. Er hätte darauf hinweisen können, dass sogar Schwachsinnige ein paar einfache Wörter beherrschten und eineinhalbjährige Kinder »Mama« und »Papa« sagen konnten, doch statt dessen bemerkte er nur: »Ich gratuliere, mon frère . Machen Sie weiter so.«
    An diesem wie am nächsten und übernächsten Abend ging der Doktor glücklich zu Bett, und auch während der nächsten beiden Tage genoss er den Erfolg, bis er sich am Abend des dritten Tages nach dem Triumph seines Schülers mit Victor und den Guérins zum Essen setzte und Victor »Lait!« rief, als Madame Guérin ihm ein Glas Wasser einschenkte. Er rief »Lait!«, als sie ein Stück vom Lammbraten abschnitt, und »Lait, lait, lait!«, als sie ihm heiße Pellkartoffeln vorsetzte.
    War der

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