Das wilde Kind
war der Mann, der ihm alles abforderte und der ihn umarmte und streichelte und ihm gute Dinge zu essen gab, wenn er gehorchte, und es war ein Schock, ihn so verwandelt zu sehen. Victor erinnerte sich an das Fenster – und an die Kammer, in die er gesteckt worden war, wenn er sich in jenen ersten Monaten des Unterrichts verweigert hatte –, und er machte sich ganz schlaff, als der Mann ihn durch die Tür in sein Zimmer und die Kammer schleifte. Und darum wollte Victor sich nicht versöhnen, als es an der Zeit war, zu Bett zu gehen, als die Schritte des Mannes sich näherten, als der Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür geöffnet wurde; er streckte nicht die Hände aus, um sich in den Arm nehmen zu lassen, wie er es so oft getan hatte, und als die Nacht gekommen war, verbarg er sich am Tor, bis er das Schnauben und Stampfen der Pferde und das Knirschen der Räder hörte und die Flügel aufschwangen und ihn hinausließen.
In der Freiheit der Nacht war er anfangs übererregt, und er stahl sich mit einem Gefühl der Dringlichkeit davon – es lag ein Geruch in der Luft, so verdorben sie auch war, der ihn in sein früheres Leben zurückversetzte, als alles rein gewesen war, gleichmäßig auf das Reich der Lust und das des Schmerzes aufgeteilt. Instinktiv hielt er sich in den Schatten, das Rumpeln der Wagen klang wie Donner, überall waren Menschen, sie kamen aus dem Dunst zum Vorschein wie Gespenster, sie riefen und schrien, ihre Holzschuhe klapperten auf den Pflastersteinen, und Hunde – wie er sie hasste! – bellten in den Gassen und knurrten hinter Zäunen. Diese neue Energie, dieses neue Gefühl trieb ihn an. Er lief, bis die Schuhe seine Füße zwickten, und dann ließ er sie hinter sich, ließ sie in einer Gasse stehen, zwei guteLederschuhe, der linke einen Schritt hinter dem rechten, als wäre der Träger von einem großen geflügelten Wesen davongetragen worden. Es begann leicht zu regnen. Er bog ab, um einer Gruppe von Männern auszuweichen, die sich mit tiefen, dröhnenden, schrecklichen Stimmen stritten, er fing an zu rennen und bog abermals ab, und dann hatte er sich verirrt. Der Regen wurde stärker. Zitternd kauerte er sich unter einen Busch, und auf einmal war nichts mehr dringlich.
Als er erwachte, war die Nacht still geworden; er hörte nur das Rauschen des Regens auf den Bäumen entlang der Straße und das Plätschern des Wassers im Rinnstein. Er wusste nicht, wo er war, er wusste nicht, wer er war, und hätte sich jemand zu ihm unter den Busch gebeugt und »Victor« gesagt – wäre Madame Guérin mit ihrer Schürze, ihrem sanften Gesicht und den bittenden Händen erschienen und hätte ihn gerufen –, so hätte er seinen Namen nicht erkannt. Er fror, er hatte keine Freunde, er war hungrig. Es war wie früher, im Wald von La Bassine und auf der kalten Hochebene von Roquecézière, und doch war es anders, denn der Hunger, den er jetzt spürte, galt nicht nur der Nahrung. Er setzte sich anders hin und zog seine durchnässte Jacke enger um sich, so gut es ging. Die eine Seite seines Gesichts war verschmiert, weil er auf der Erde gelegen hatte. Beide Fußsohlen waren zerschunden und bluteten. Er zitterte, bis seine Rippen schmerzten.
Im ersten Tageslicht sah ein Mann in Uniform ihn unter dem Busch kauern und stieß ihn mit einer glänzenden Stiefelspitze an. Victor war woanders gewesen, in Träume versunken, und sprang panisch auf. Der Mann – der Gendarm – sagte etwas, die schnellen, harten Worte klangen wie ein Trommelwirbel, aber als er Victor am Arm packenwollte, war er einen halben Takt zu langsam. Plötzlich rannte Victor los, die Pflastersteine schürften seine Füße auf, und der Gendarm rannte ebenfalls, bis Regen und Nebel sich einmischten und Victor sich unter einem Baum wiederfand und dem Strömen und Strudeln des Flusses zusah. Nicht einmal einen Kilometer entfernt suchten Itard und die Guérins die Straßen ab, hielten Passanten an, um sie nach ihm zu fragen: Hatte irgend jemand ihn gesehen, einen fünfzehnjährigen Jungen mit spitzer Nase, kurzgeschnittenem erdbraunem Haar, in einem blauen Hemd und einer Jacke, den wilden Jungen, den Wilden, der aus dem Institut für Taubstumme geflohen war? Die Leute starrten sie nur an. Itard wandte sich ab und rief durchdringend und beharrlich »Victor! Victor!«, während Madame Guérins Stimme immer verzagter und klagender klang.
Die Stadt erwachte und regte sich. Feuer wurden entzündet. Teig fiel in heißes Öl, Eier wurden
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