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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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an die Tür gedrückt, flüsterte er, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen: »Spricht er?«
    »Nein, er schreit und wimmert nur. Er könnte … Ich glaube, er ist taubstumm.«
    Der Kommissar überwand seinen anfänglichen Schock, ging durch den Raum, blieb bei dem Jungen stehen und murmelte dabei etwas Beruhigendes. Seine wissenschaftliche Neugier war geweckt – dies war eine seltene Gelegenheit. Eigentlich ein Wunder. »Sei gegrüßt«, sagte er schließlich und ging in die Knie, so dass sein ausdrucksloses Gesicht im Blickfeld des Jungen war. »Ich bin Jean-Jacques Constans-Saint-Estève, Kommissar für Saint-Sernin. Und wer bist du? Wie heißt du?«
    Der Junge starrte durch ihn hindurch, als wäre er Luft.
    »Hast du einen Namen?«
    Nichts.
    »Verstehst du mich? Verstehst du Französisch? Oder vielleicht eine andere Sprache?« Nach der Hautfarbe zu urteilen, stammte der Junge vielleicht aus dem Baskenland, aus Spanien oder Italien. Der Kommissar versuchte es mit Begrüßungen in den entsprechenden Sprachen und klatschte dann frustriert so laut er konnte unmittelbar vor der Nase des Jungen in die Hände. Keinerlei Reaktion. Der Kommissar sah zu Vidal und den bleichen Gesichtern, die wie die Früchte eines Baums vor dem nächstgelegenen Fenster hingen, und erklärte: »Taubstumm.«
    Nun hielten es die Dorfbewohner nicht mehr aus. Einer nach dem anderen schoben sie sich in den Raum, bis kaum mehr Platz darin war. Sie trampelten auf den getrockneten Blättern und Wurzeln herum, die auf dem Boden lagen, und versuchten, vermutete Vidal, das Geheimnis seinerMethoden und Rezepturen zu ergründen, was ihn nervös, misstrauisch und wütend machte, und da erwachte der Junge unvermittelt zum Leben und sprang zur offenen Tür. Die Leute schrien auf und wichen zurück, als wäre er ein tollwütiger Hund, und im nächsten Augenblick war der Junge draußen im Regen und galoppierte auf allen vieren zu dem Vorhang aus Bäumen am Ende des Feldes. Und er hätte es geschafft, er wäre ein zweitesmal in die Wildnis entkommen, wenn ihn nicht zwei starke Männer in den Zwanzigern, die schnell rennen konnten, eingeholt und zur offenen Tür des Färbers geschleppt hätten. Der Junge wand sich in ihrem Griff, stieß wiederholt heisere Laute aus – uh, uh, uh, uh – und reckte den Hals, um sie zu beißen.
    Es war jetzt ganz dunkel, nur der Feuerschein und das Licht einer Kerze fielen durch die Türöffnung und beleuchteten die Szene. Der Kommissar stand in der Tür, betrachtete den Jungen lange und streichelte dann sein Gesicht. Er strich ihm das Haar aus Stirn und Augen, damit jeder sah, dass es ein Menschenkind und kein Hund, kein Affe oder Dämon war, und das Streicheln hatte die Wirkung, die es bei jedem empfindungsfähigen Wesen gehabt hätte: Der Atem des Jungen wurde ruhiger, sein Blick verhangen. »Es ist gut«, sagte der Kommissar, »lasst ihn los.« Die beiden Männer taten wie befohlen und traten zurück. Der Junge saß, von Schlamm und Regenwasser glänzend, zusammengesunken auf der Türschwelle, mit Gliedern, so dünn wie Stöcke, und dann nahm er stumm die Hand, die der Kommissar ihm darbot, und erhob sich.

    Es war, als wäre im Inneren des Jungen ein Schalter umgelegt worden: Er ging so fügsam an der Hand des Kommissarswie ein Novize auf dem Weg zur Kirche, und das ganze Dorf folgte den beiden in feierlicher Prozession. Der Regen prasselte noch immer hernieder und verwandelte die Straßen in Matsch, und einige versuchten, sich dem Jungen so weit zu nähern, dass sie ihn berühren konnten, während andere riefen, er habe sich bisher von den Nüssen und Wurzeln des Waldes ernährt – und was werde man ihm jetzt vorsetzen? Eine blanquette de veau? Bœuf bourguignon? Langouste? Der Kommissar würdigte sie keiner Antwort, war aber zu einem eigenen Experiment entschlossen. Zunächst würde er die Blöße des Jungen bedecken, und dann würde er ihm die verschiedensten Nahrungsmittel vorsetzen, um zu sehen, für welche er sich entscheiden würde, und dabei wollte er versuchen, Erkenntnisse über dieses wundersame Wesen zu gewinnen, von denen die Gesellschaft profitieren würde, eine Bereicherung des Wissens der Menschheit.
    Zu Hause angekommen, verschloss er vor den Dorfbewohnern die Türen, wies einen Diener an, ein passendes Kleidungsstück zu bringen, bestellte sein eigenes Abendessen und führte den Jungen in den Raum, den er als Arbeits- und Amtszimmer benutzte. Ein Feuer wurde entzündet, und der Junge ließ sich sofort

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