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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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davor nieder. In dem Raum befanden sich mehrere Stühle und Sessel, ein Schreibtisch, Regale voller Gesetzeswerke und Schriften über Naturgeschichte und Philosophie, die Akten des Kommissars, ein frei stehender Globus und ein schmiedeeiserner Vogelkäfig. Darin saß ein Graupapagei, ein Weibchen, das Constans-Saint-Estèves Vater vor etwa dreißig Jahren aus Gambia mitgebracht hatte; es hieß Philomène und konnte mit durchdringender Stimme Trauben, Kirschen und Nüsse verlangen, Bemerkungen über das Wetteroder die Betrunkenheit der Gäste machen und die ersten Takte von Mozarts Klaviersonate in a-Moll pfeifen. Erregt durch die Aussicht, den Jungen in aller Ruhe untersuchen zu können, verließ der Kommissar den Raum für einen Augenblick, um seine Frau zu beschwichtigen und einem Diener aufzutragen, er solle diverse Nahrungsmittel bringen; als er zurückkehrte, presste der Junge das Gesicht an das Gitter des Vogelkäfigs, während ihm Philomène, sehr von sich eingenommen, den Mozart darbot.
    Er nahm den Jungen sanft an der Hand und führte ihn zum Tisch, wo ein Diener verschiedene rohe und gekochte Speisen angerichtet hatte: Fleisch, Roggen- und Weizenbrot, Äpfel, Birnen, Trauben, Walnüsse, Kastanien, Eicheln, Kartoffeln, Pastinaken und eine Orange. Von alldem schien der Junge nur die Eicheln und die Kartoffeln zu kennen. Die letzteren warf er sogleich ins Feuer, während er die Eicheln mit den Zähnen knackte und das Fruchtfleisch herauslutschte. Gleich darauf verschlang er die Kartoffeln, obwohl sie glutheiß waren. Brot bedeutete ihm nichts. Wieder versuchte der Kommissar viele geduldige Stunden lang, mit ihm zu sprechen, zunächst laut, dann durch Gebärden, wie Taubstumme sie verwendeten, doch nichts davon rief eine Reaktion hervor; der Junge schien nicht mehr Bewusstsein zu besitzen als ein Hund oder eine Katze. Er reagierte auf kein Geräusch, nicht einmal auf Trommeln. Schließlich ließ der Kommissar, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Fenster und die Tür fest verschlossen waren, den Jungen in dem Raum zurück, löschte die Kerzen und ging zu Bett. Seine Frau schimpfte mit ihm – was fiel ihm ein, diesen Wilden ins Haus zu bringen? Was, wenn er in der Nacht ausbrach und sie alle tötete? –, und seine beiden Söhne Guillaume und Gérard,vier und sechs Jahre alt, sagten ihm, sie hätten zuviel Angst, um in ihren eigenen Betten zu schlafen, und müssten sich zu ihm legen.
    Am nächsten Morgen schlich er vorsichtig zu seinem Arbeitszimmer, auch wenn er sich dabei sagte, es bestehe gar kein Grund, leise zu sein, denn der Junge sei höchstwahrscheinlich taub. Er drückte die Klinke und spähte in den Raum, ohne zu wissen, was er eigentlich erwartete. Das erste, was er sah, war das lange Hemd aus grauem Stoff, das man dem Jungen gestern abend mit Gewalt angezogen hatte; es lag mitten im Zimmer auf dem Teppich, neben einem glänzenden Haufen Kot. Das nächste war das Kind selbst: Es stand in der entferntesten Ecke, starrte die Wand an, wiegte sich vor und zurück und stöhnte dabei, als wäre es lebensgefährlich verletzt. Dann bemerkte der Kommissar, dass mehrere Bände von Buffons Histoire naturelle générale et particulière aufgeschlagen und mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen; lose Seiten waren hierhin und dorthin verstreut. Und schließlich sah er Philomène oder vielmehr das, was von ihr übrig war.
    Noch am selben Nachmittag wurde der Junge zum Waisenhaus von Saint-Affrique geschickt.

4

    Er wurde in einem zweirädrigen Wagen nach Saint-Affrique gebracht. Das Schaukeln und Schwanken bereitete ihm großes Unbehagen. Während der Fahrt musste er sich viermal übergeben, und der Diener, den Constans-Saint-Estève ihm mitgegeben hatte, tat nichts, um ihm sein Los zu erleichtern, sondern wischte das Erbrochene lediglich mit einem feuchten Lappen auf. Der Junge trug wieder das graue Hemd, und man hatte ihm einen Strick um die Taille gebunden, damit er es nicht abermals ausziehen konnte. Er war barfuß und hielt einen kleinen Sack voller Kartoffeln und Rüben, die man ihm als Wegzehrung mitgegeben hatte. Die Pferde schienen ihm große Angst zu machen. Während der ganzen Fahrt hockte er auf dem Sitz und wiegte sich stöhnend vor und zurück. Am Waisenhaus angekommen, wollte er auf allen vieren und quiekend wie ein Nagetier in den Wald fliehen, doch der Diener war zu schnell für ihn.
    Drinnen war bald offensichtlich, dass dies kein normales Kind war. Der Direktor des

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