Das wilde Kind
Waisenhauses – der Bürger R. Nougairoles – stellte fest, dass der Junge nicht wusste, wie man an einem Tisch saß oder wie man seine Notdurft auf einem Topf oder gar der Latrine verrichtete, dass er an seinem Hemd zerrte, als versenge ihm der Stoff durchbloße Berührung die Haut, dass er sich weigerte, in dem für ihn aufgestellten Bett zu schlafen und sich statt dessen auf den Kehrichthaufen in der Ecke legte. Wenn er sich bedroht fühlte, fletschte er die Zähne. Die anderen Kinder, die zunächst neugierig waren, lernten bald, einen Bogen um ihn zu machen. Dennoch passte er sich in der kurzen Zeit, die er dort verbrachte – es waren lediglich zwei Wochen –, immerhin soweit an, dass er die Annehmlichkeit eines Feuers an einem kalten Tag zu schätzen wusste, und er erweiterte seinen Speiseplan um Erbsensuppe mit hineingebrocktem Schwarzbrot. Andererseits zeigte er keinerlei Interesse an den anderen Waisenkindern – oder irgend jemandem sonst, es sei denn, dieser war in direktem Besitz einer der einfachen Speisen, die er gern aß. Gemessen an seiner Reaktion hätten die Menschen in seiner Umgebung ebensogut Bäume sein können – es sei denn natürlich, sie kamen ihm zu nah –, und ihm fehlte auch jeder Begriff von Arbeit und Freizeit. Wenn er nicht aß oder schlief, hockte er da, wiegte sich vor und zurück und stieß eigenartige, unartikulierte Laute aus. Dabei nutzte er jede Gelegenheit zur Flucht und musste zweimal eingefangen und gefesselt werden. Obendrein, und das war in Nougairoles Augen am beunruhigendsten, schien er die Formen und Symbole göttlicher Verehrung nicht zu kennen. Der Direktor kam zu dem Schluss, dass es sich hier nicht um einen Simulanten, sondern um ein echtes wildes Kind handelte – um Linnés fleischgewordenen Homo ferus –, und dass das Waisenhaus wohl kaum der rechte Ort dafür war.
Inzwischen schrieben sowohl er als auch Contans-Saint-Estève ihre Beobachtungen über den Jungen auf und schickten sie an das Journal des débats , und von dort übernahmendie anderen Pariser Zeitschriften die Geschichte. Bald war die ganze Nation wie verrückt nach den Nachrichten über dieses Wunderwesen von Aveyron, das wilde Kind, das Tier in Menschengestalt. Spekulationen galoppierten durch die Straßen und hallten in den Gassen wider. War er Rousseaus edler Wilder oder bloß irgendein primitiver Eingeborener? War er vielleicht – ein erregender Gedanke – der loup-garou , der Werwolf der Legenden? Oder war er eher mit dem Orang-Utan verwandt, dem großen orangeroten Affen des Fernen Ostens? Jemand hatte vorgeschlagen, ein Exemplar dieser Spezies mit einer Prostituierten zu kreuzen, um festzustellen, wie die Nachkommenschaft einer solchen Verbindung geartet sei. Zwei prominente und konkurrierende Naturforscher – Abbé Roch-Ambroise Sicard vom Taubstummeninstitut in Paris und Abbé Pierre-Joseph Bonnaterre, Professor für Naturgeschichte an der Ecole Centrale in Rodez – beantragten, das Kind zu sich nehmen zu dürfen, um sein Verhalten zu beobachten und aufzuzeichnen, bevor es durch den Kontakt zur Gesellschaft weiterhin kontaminiert wurde. Weil Bonnaterre in der Nähe lebte, bekam er den Zuschlag, zumindest fürs erste. Er holte den Jungen persönlich in Saint-Affrique ab und brachte ihn zur Schule in Rodez. Für das verwirrte Kind, das all das nur los sein wollte, bedeutete das: schon wieder ein Wagen, furchterregende Pferde, ein fremdes Gesicht. Wieder übergab er sich auf den Boden des Wagens. Er drückte den Sack mit Kartoffeln und Rüben an sich und ließ ihn keinen Moment aus den Augen.
Bis der Innenminister vielleicht eine Entscheidung zugunsten Sicards treffen würde, hatte Bonnaterre das Kind ein paar Monate lang für sich. Er wies einen Diener an,sich um die körperlichen Bedürfnisse des Jungen zu kümmern, und veranstaltete diverse Experimente, um die Reaktionen des Kindes und den Umfang seines Wissen festzustellen. Da man annahm, es sei taub, hatte man sich bisher nur durch Gebärden mit ihm verständigt, doch Bonnaterre legte eine Reihe von Musikinstrumenten zurecht, vom Triangel über Trommeln bis hin zur Gambe, und spielte sie dem Jungen der Reihe nach vor, so gut er konnte. Es war ein klarer, sonniger Wintertag. Bonnaterres Diener – sein Gärtner, auf den der Junge wenigstens ansatzweise zu reagieren schien, vielleicht wegen des Erdgeruchs, der an ihm haftete – stand neben der Tür, um eine Flucht zu verhindern und ihn zu disziplinieren, sollte er über die
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