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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seltsamer Fötus in einem Fruchtwasserozean, eine grün bewachsene Zunge mit Moschee und Minarett erhob.
    Ich wollte soviel wie möglich über meine Insel erfahren und befragte reihum die Bonbon- und Keksverkäuferin im Lebensmittelgeschäft, den Behinderten im Zeitungskiosk, meine Freunde hinter dem Wohnblock und die Arbeiter aus der Brotfabrik »Der Pionier«. Alle kannten sie; Ada-Kaleh befand sich in ihnen wie ein lebendiges Organ, wie eine Art imaginäre Bauchspeicheldrüse, ja sogar wie ein Herz, aber niemand wußte es genau, wie man ja auch nicht weiß, wie die eigene Bauchspeicheldrüse eigentlich aussieht oder ob nicht gar jeder Knochen deines Skeletts eine andere Farbe hat. Eine Insel in der Donau, die von Türken bewohnt war, und ein Lied.
    Es war im Jahre 1965. Im Bauernhaus meines Großvaters hatte ich in einer Halva-Schachtel, die hinter einem Dachbalken versteckt war, eine Handvoll großer und schwerer Silbermünzen gefunden. Darauf war ein Kopf mit Backenbart und Krone zu sehen. Ringsum stand: König Ferdinand. »Wer war König Ferdinand?« fragte ich Mutter, die
auf dem Gang mit einem Stein Nüsse aufklopfte. Mutter sagte mir, daß es früher Könige gegeben hatte. In der Schule wurden sie nicht erwähnt. »Sprich auch du nicht darüber, denn es ist nicht erlaubt.« Auf den mit rohseidenen Handtüchern geschmückten Wänden hingen viele Ikonen in Rahmen aus zerstampftem, blau oder rot eingefärbtem Glas. Was war mit den Heiligen, den Engeln, mit Gott? Wo lebten die? Juri Gagarin war im Himmel gewesen und hatte sie dort nicht angetroffen. Ich hatte einmal in einem Album ein seltsames Gemälde gesehen: Jesus Christus erhob sich aus einem Grab, und ringsum befanden sich römische Soldaten, genau solche, wie sie im Geschichtsbuch abgebildet waren, aber sie sahen verängstigt aus, waren kurz davor, davonzulaufen. »Mutter, hat Jesus zur Römerzeit gelebt?« hatte ich gefragt. Mutter wußte nicht, was sie mir antworten sollte. Auch über Jesus Christus wurde in der Schule nicht gesprochen.
    Dann bin ich gewachsen. Ich hüpfte nicht mehr auf dem Bett herum. Das Bild von Ada-Kaleh wurde von Fliegen befleckt und begann brüchig zu werden. Die Beschichtung des Rahmens war ganz zerfressen. Mit der Gummiwalze tapezierte Zimmerwände waren aus der Mode gekommen, also wurde bei uns neu und einfacher gestrichen, bloß noch eine Farblinie, die um die Decke lief. Diese Art des Malerns nannte man »Spiegel«, und tatsächlich, wenn ich lange auf die weiße Zimmerdecke schaute, konnte ich in ihrem Kalk Schlachten und uralte Städte erkennen, Drachen und nackte Frauenbrüste, deren Brustwarzen von einem Ring mit einer Perle durchstochen waren. Auch mich selbst konnte ich sehen, einen schmalen Heranwachsenden mit schwarzen, auf die Zimmerdecke gerichteten Augen. Auch spielte
ich immer noch mit dem Radio; es war mir gelungen, die durchlöcherte Kartonplatte an seiner Rückseite zu öffnen, und es machte mir großen Spaß zu sehen, wie die Spule am Ferritkern entlangglitt, wenn ich an dem gelblichen Knopf drehte. Dann vermischten sich Stimmen und Liedfragmente in verschiedenen Sprachen. Und die Anzeigenadel bewegte sich an Städtenamen entlang, von denen ich damals dachte, daß ich niemals dorthin reisen würde: London, Paris, Wien, Prag, Warschau … Ab und zu fing ich auch die nostalgischen Modulationen des Liedes von damals noch ein, »Ada-Kaleh, Ada-Kaleh«, dies geschah jedoch immer seltener und kam, so schien es, von weit her. Die Sendung »Hier spricht Moskau« war verschwunden, dafür war »Gute Nacht, Kinder« geblieben, und »Die Windrose«, eine Sendung zur Popularisierung der Wissenschaft, war eben neu hinzugekommen. Hier habe ich zum ersten Mal etwas von dem großen Projekt eines Wasserkraftwerks am Eisernen Tor erfahren, das von der Sozialistischen Republik Rumänien und der S . F . R . Jugoslawien genau dort in Cazane gebaut werden sollte, an dem überwältigenden und beängstigenden Ort, an dem die Donau wie ein horizontaler Wasserfall dahinströmte. Ich hörte auch von dem gewaltigen Stausee, der das kolossale Wasserwerk speisen sollte, von den gigantischen Schleusen, vom unterirdischen Turbinensaal, von den Schaufelrädern mit noch nie dagewesenem Umfang. Ich erfuhr, daß die brüderliche Freundschaft zwischen zwei benachbarten sozialistischen Völkern zur Verwirklichung dieses kühnen Projekts geführt hatte, das einen Großteil der in beiden Ländern benötigten Energie liefern würde. Aber ich hatte

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